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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Täuschung war, die aus der Intensität der analytischen Begegnung entstanden war.
    Ohne Erinnerung daran, die Fifth, Sixth oder Seventh Avenue überquert zu haben, fand ich mich plötzlich auf dem Times Square wieder. Ich begab mich zum Dachgarten des Hammerstein’s Victoria, wo ich mit Freud und den anderen zum Mittagessen verabredet war. Der Dachgarten selbst war ein Theater mit erhöhter Bühne, Terrassen, Logen und einem Dach in zwanzig Metern Höhe. Die Vorführung, ein Drahtseilakt, lief noch. Die Artistin war eine Französin mit Haube, die ein himmelblaues Kleid und blaue Strümpfe trug. Jedes Mal wenn sie ihren Sonnenschirm ausstreckte, um die Balance zu halten, schrien die vornehmen Damen im Publikum wie aus einem Mund auf. Ich habe nie verstanden, weshalb Zuschauer so reagieren; es liegt doch auf der Hand, dass Drahtseilkünstler nur so tun, als wären sie in Gefahr.
    Von den anderen war nichts zu sehen. Offensichtlich war ich zu spät gekommen, und sie waren schon aufgebrochen. Also marschierte ich zurück Richtung Central Park West zu Brills Haus – in der Annahme, dass sie dort irgendwann auftauchen mussten. Doch niemand öffnete, als ich klingelte. So schlenderte ich über die Straße und setzte mich ganz allein auf eine Bank, den Central Park im Rücken. Aus meiner Aktentasche zog ich Halls Brief. Nachdem ich ihn ungefähr fünfmal gelesen hatte, steckte ich ihn schließlich wieder zurück und nahm etwas anderes zum Lesen heraus – was, brauche ich wohl kaum zu erwähnen.

     
    »Haben Sie sie?«, erkundigte sich Coroner Hugel bei Louis Riviere, dem Leiter der Fotografieabteilung, im Untergeschoss des Polizeihauptquartiers.
    »Ich bin gerade beim Lackieren.« Riviere stand über einem Ausguss in seiner Dunkelkammer.
    »Aber ich habe Ihnen die Platten doch schon heute Morgen um sieben geschickt«, quengelte Hugel. »Die müssen doch schon längst fertig sein.«
    »Ruhe, bitte.« Riviere schaltete das Licht ein. »Kommen Sie rein, jetzt können Sie sie anschauen.«
    Hugel betrat die Dunkelkammer und begutachtete die Bilder voll nervöser Aufregung. Nacheinander ging er die Platten rasch durch und sonderte gleich diejenigen aus, die für ihn uninteressant waren. Plötzlich hielt er inne und starrte auf eine Nahaufnahme vom Hals des Mädchens, die einen deutlich hervortretenden kreisförmigen Abdruck erkennen ließ.
    »Was ist das da auf ihrem Hals?«, fragte der Coroner.
    »Eine Quetschung, oder?«
    »Eine normale Quetschung ist nie so vollkommen rund.« Hugel nahm seine Brille ab und führte das Bild ganz nah an die Augen. Die Fotografie zeigte einen körnigen, runden Fleck in Schwarz auf einem fast weißen Hals. »Louis, wo ist das Vergrößerungsglas?«
    Riviere reichte ihm einen Gegenstand, der aussah wie ein umgedrehtes Schnapsglas. Der Coroner riss es ihm aus den Händen und legte es an die Fotografie, wo der dunkle Fleck war. Dann lugte er hindurch. »Jetzt hab ich ihn!«, rief er. »Jetzt hab ich ihn!«
    Außerhalb der Dunkelkammer ertönte Detective Littlemores Stimme. »Haben Sie was entdeckt, Mr. Hugel?«
    »Littlemore«, begrüßte ihn Hugel. »Da sind Sie ja. Ausgezeichnet.«
    »Sie haben mich doch gebeten zu kommen, Mr. Hugel.«
    »Ja, und jetzt zeige ich Ihnen, warum.« Der Coroner forderte Littlemore mit Gesten auf, durch Rivieres Lupe zu blicken. Der Detective tat wie geheißen. In der Vergrößerung flossen die körnigen Linien innerhalb des schwarzen Kreises zu einer deutlicheren Gestalt zusammen.
    »Nanu«, sagte Littlemore, »sind das etwa Buchstaben?«
    »Ja, das sind Buchstaben.« Die Stimme des Coroners klang triumphierend. »Zwei Buchstaben.«
    »Aber sie sehen irgendwie komisch aus«, setzte Littlemore hinzu. »Irgendwie falsch. Der zweite könnte ein J sein. Beim ersten weiß ich nicht.«
    »Sie sehen falsch aus, weil sie verkehrt herum sind, Mr. Littlemore«, erklärte der Coroner gewichtig. »Louis, erklären Sie dem Detective, warum die Buchstaben verkehrt herum sind.«
    Riviere blickte durch die Lupe. »Ja, da sind sie: zwei verschränkte Buchstaben. Wenn sie verkehrt herum sind, dann ist der rechts, den Monsieur Littlemore als J bezeichnet hat, kein J , sondern ein G. «
    »Richtig«, bestätigte der Coroner.
    »Aber warum«, fragte Riviere, »soll die Schrift verkehrt herum sein?«
    »Weil es sich, meine Herren, um einen Abdruck handelt, den die Krawattennadel des Mörders auf dem Hals des Mädchens hinterlassen hat.« Hugel legte eine dramatische Pause ein. »Sie

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