Morddeutung: Roman (German Edition)
jemanden?«
»Da muss ich nachdenken.« Greta setzte eine grüblerische Miene auf. »Nein, mir fällt keiner ein.«
»Also, was wollen Sie noch hier?«, blaffte Mrs. Merrill. »Sie haben sie doch gehört.«
»Aber der Mann ist hierhergekommen. Der Taxifahrer hat ihn direkt vor Ihrer Tür abgesetzt.«
»Abgesetzt? Das heißt noch lange nicht, dass er bei uns war. Das ist doch nicht das einzige Haus im Block.«
Littlemore nickte bedächtig. Für seinen Geschmack war Greta eine Spur zu blasiert und Mrs. Merrill ein wenig zu sehr darauf aus, ihn loszuwerden.
KAPITEL DREIZEHN
Sie hatte mich aufgefordert, sie zu küssen.
Ich folgte der Forty-second Street durch die Stadt, doch vor meinem inneren Auge sah ich ständig Nora Actons geöffnete Lippen. Ich spürte ihren weichen Hals in meiner Hand. Ich hörte, wie sie diese drei Worte flüsterte.
Präsident Halls Brief mit den bedrückenden Nachrichten steckte in meiner Aktentasche. Eigentlich hätte ich nur einen Gedanken im Kopf haben dürfen: wie verhindert werden konnte, dass nicht nur die Konferenz an der Clark University nächste Woche ruiniert wurde, sondern auch Dr. Freuds gesamter Ruf, zumindest in Amerika. Doch ich sah nichts anderes als den Mund und die geschlossenen Augen von Miss Acton.
Ich machte mir nichts vor. Ich wusste, was es mit ihren Gefühlen für mich auf sich hatte. Derlei hatte ich schon viel zu oft erlebt. Eine meiner Patientinnen in Worcester, ein Mädchen namens Rachel, bestand darauf, sich bei jeder Psychoanalysesitzung bis zur Taille zu entkleiden. Jedes Mal führte sie einen anderen Grund dafür an: ein unregelmäßiger Herzschlag, eine möglicherweise gebrochene Rippe, ein dumpfer Schmerz in der Lendengegend. Und Rachel war nur eine von vielen. In all diesen Fällen hatte ich der Versuchung nie widerstehen müssen – weil ich nie in Versuchung geraten war. Im Gegenteil, ich empfand die Entfaltung von Verführungskünsten bei meinen Patientinnen eher als schaurig.
Wären meine Patientinnen attraktiver gewesen, hätten sie mir bestimmt nicht solch unbehagliche Gefühle eingeflößt. Ich bin schließlich nicht tugendhafter als andere. Aber diese Frauen waren nicht attraktiv. Die meisten waren so alt, dass sie meine Mutter hätten sein können. Ihr Begehren stieß mich ab. Rachel war eine Ausnahme. Sie war anziehend: lange Beine, dunkle Augen – wenn auch vielleicht ein wenig zu eng stehend – und eine Figur, die man als gut, ja sogar als sehr gut bezeichnen konnte. Aber sie war auf aggressive Weise neurotisch, was ich noch nie besonders reizvoll fand.
Gelegentlich stellte ich mir vor, dass andere, hübschere Mädchen bei mir in Behandlung gingen. Ich malte mir unbeschreibliche – aber nicht unmögliche – Ereignisse in meiner Praxis aus. Es kam so weit, dass ich jede neue Psychoanalysepatientin, die bei mir erschien, zuallererst auf ihre Anmut taxierte. Mit der Zeit entwickelte ich einen Widerwillen gegen mich selbst, der so stark wurde, dass ich mich fragte, ob ich überhaupt noch als Psychoanalytiker taugte. So hatte ich den ganzen Sommer keine Analysepatientin mehr angenommen – bis Miss Acton auftauchte.
Und jetzt hatte sie mich aufgefordert, sie zu küssen. Es war unmöglich, vor mir selbst zu verbergen, was ich von ihr wollte. Noch nie hatte ich ein so heftiges Verlangen gespürt, einen anderen Menschen zu überwältigen und zu besitzen. Und ich zweifelte sehr daran, dass ich mich in den Fängen der Gegenübertragung befand. Um ganz offen zu sein, hatte ich dieses Verlangen schon gespürt, als ich Miss Acton zum ersten Mal erblickte. Doch für sie sah der Fall natürlich ganz anders aus. Zum einen musste sie sich noch von den traumatischen Folgen eines körperlichen Angriffs erholen. Und zum anderen war sie das Opfer einer überaus starken Übertragung.
Sie hatte keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen mich gemacht bis zu dem Augenblick, als die verdrängten Erinnerungen wieder in ihr Bewusstsein strömten – befreit mit Hilfe des physischen Drucks, den ich auf ihren Hals ausgeübt hatte. In diesem Moment wurde ich für sie eine Art Gebietergestalt. Ihre Gefühle zuvor waren mit dem Begriff Abneigung noch zurückhaltend beschrieben. Sie hasste mich, wie sie selbst gesagt hatte. Danach wollte sie sich mir hingeben – wenigstens glaubte sie das. Es war klar wie Druckerschwärze, auch wenn mir diese Einsicht wehtat, dass die Liebe, die sie empfand – wenn man diesen Begriff hier überhaupt verwenden konnte -, nur eine
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