Morddeutung: Roman (German Edition)
wandte sich wieder an mich. »Überlegen Sie. Was haben Sie zu ihr gesagt, unmittelbar bevor sie handgreiflich wurde?«
»Ich hatte gerade mit der Berührung ihrer Stirn aufgehört, die nichts gebracht hat. Ich habe mich hingesetzt und sie nach einer Analogie gefragt, die sie zuvor angedeutet hatte. Sie hatte die weiße Haut von Mrs. Banwells Rücken mit etwas vergleichen wollen, sich dann aber unterbrochen. Ich habe sie aufgefordert, den Gedanken zu Ende zu führen.«
»Weshalb?«, erkundigte sich Freud.
»Sie haben selbst geschrieben, Dr. Freud, dass bei einem Patienten, der einen Satz beginnt und sich dann unterbricht, immer eine Verdrängung im Spiel ist.«
»Guter Junge. Und wie hat Nora reagiert?«
»Sie wollte mich rausschmeißen. Ohne jede Vorwarnung. Und dann hat sie angefangen, Sachen nach mir zu werfen.«
»Einfach so?«
»Ja.«
»Also?«
Wieder fand ich keine Antwort.
»Sind Sie nicht auf die Idee gekommen, dass Nora eifersüchtig werden könnte, wenn Sie Interesse an Clara Banwell bekunden? Und noch dazu, wenn es um ihren nackten Rücken geht?«
»Interesse an Mrs. Banwell?« Ich war verblüfft. »Ich kenne Mrs. Banwell doch gar nicht.«
»Auf solche Feinheiten nimmt das Unbewusste keine Rücksicht«, erklärte Freud. »Führen Sie sich doch die Fakten vor Augen. Nora hat gerade beschrieben, wie sie Zeugin der Fellatio zwischen Clara Banwell und ihrem Vater wurde. Jeder anständige Mensch wird solche Praktiken natürlich abstoßend finden; sie erfüllen uns mit größtem Ekel. Aber Nora ist überhaupt kein Ekel anzumerken, obwohl sie angedeutet hat, dass sie genau weiß, worum es dabei geht. Sie sagt sogar, dass sie Mrs. Banwells Bewegung attraktiv fand. Nun ist es völlig undenkbar, dass Nora diese Szene ohne tiefe Eifersucht beobachtet hat. Für ein Mädchen ist es schwer genug, die Gegenwart der eigenen Mutter zu ertragen. Wenn nun gar eine andere Frau die Leidenschaft ihres Vaters weckt, wird sie zwangsläufig von tiefem Groll gegen diese Frau erfüllt sein. Nora hat also Clara beneidet. Sie wollte diejenige sein, die ihren Vater befriedigt. Der Wunsch wurde verdrängt und hat sie seither nicht verlassen.«
Wenige Minuten vorher hatte ich Ferenczi in meinem Inneren gescholten, weil er seinem Widerwillen gegen eine »abartige« sexuelle Handlung Ausdruck verliehen hatte – ein Widerwillen, den ich trotz Freuds Bemerkung über die Gefühle aller anständigen Menschen nicht recht teilen mochte. Gerade hatte ich mir überlegt, dass alle Lehren aus der Psychoanalyse eigentlich gegen die gesellschaftliche Missbilligung sogenannter abartiger Sexualität sprachen. Doch jetzt wurde ich von ganz ähnlichen Gefühlen heimgesucht. Der Wunsch, den Freud Miss Acton unterstellte, erfüllte mich mit Abscheu. Ekel ist so beruhigend, weil er sich anfühlt wie ein moralischer Beweis. Es ist schwer, von einer moralischen Einschätzung abzurücken, die von Ekel untermauert wird. Dies kann nur geschehen um den Preis, dass wir unser ganzes Verständnis von Richtig und Falsch ins Wanken bringen, so als würde aus dem Gefüge unseres Weltbilds ein tragendes Brett herausbrechen.
Freud fuhr fort. »Gleichzeitig hat Nora den Plan gefasst, Mr. Banwell zu verführen, um sich an ihrem Vater zu rächen. Aus diesem Grund hat sich Nora nur wenige Wochen später bereit erklärt, allein mit Banwell auf das Dach dieses Hochhauses zu fahren, um das Feuerwerk anzuschauen. Aus diesem Grund hat sie zwei Jahre später am Ufer eines romantischen Sees einen Spaziergang mit ihm gemacht. Wahrscheinlich hat sie ihn die ganze Zeit mit Andeutungen ermutigt, was einem hübschen jungen Mädchen ja nicht schwerfällt. Er muss bestimmt sehr überrascht gewesen sein, dass sie ihn zurückgewiesen hat – und nicht nur einmal, sondern sogar zweimal.«
»Was sie hat getan, weil wahrer Gegenstand ihres Begehrens war ihr Vater«, warf Ferenczi ein. »Trotzdem, warum sie attackiert Younger?«
Freud gab die Frage an mich weiter.
»Weil ich für ihren Vater stehe?«
»Genau. Wenn Sie sie analysieren, nehmen Sie seine Stelle ein. Es handelt sich um die vorhersehbare Übertragungsreaktion. Deshalb hat Nora jetzt den unbewussten Wunsch, Younger mit Mund und Hals zu befriedigen. Von dieser Fantasie war sie erfüllt, als Younger vor sie trat, um ihre Stirn zu berühren. Sie haben erzählt, Younger, dass sie in diesem Moment ihren Schal abnehmen wollte. Diese Geste stellte ihre Einladung an Younger dar, Besitz von ihr zu ergreifen. Dies ist, wie
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