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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Damen! Zu meiner Zeit hat es so was nicht gegeben.«
    Nora wurde rot. »Das lasse ich nicht zu.«
    »Wie bitte?«
    »Ich möchte nicht ungebildet bleiben.«
    Empört wandte sich Mildred an ihren Mann. »Hast du das gehört, Harcourt? Sie nennt mich ungebildet. Nein, nicht die Brille, Harcourt, nimm die andere.«
    »Vater?«
    »Nun, Nora. Wir müssen eben tun, was am besten für dich ist.«
    Nora betrachtete ihre Eltern mit unverhohlenem Zorn. Dann rannte sie aus dem Raum und die Treppe hinauf, ohne im ersten Stock stehen zu bleiben, wo ihr Zimmer lag. Auch im zweiten Stock hielt sie nicht an, sondern lief bis ganz hinauf zu der winzigen Dienstbotenwohnung mit den niedrigen Decken in der dritten Etage. Dort stürmte sie direkt in Mrs. Biggs’ Schlafzimmer, warf sich aufs Bett der alten Frau und vergrub das Gesicht in dem rauen Kissen. Wenn ihr Vater sie nicht aufs Barnard College ließ, teilte sie Mrs. Biggs unter heftigem Schluchzen mit, würde sie durchbrennen.
    Mrs. Biggs tat ihr Bestes, um das Mädchen zu trösten. Sie sollte sich erst mal ausschlafen, am nächsten Tag würde alles schon ganz anders aussehen. Es war schon fast Mitternacht, als sich Nora endlich bereit erklärte, zu Bett zu gehen. Damit sie sich wirklich sicher fühlte, sorgte Mrs. Biggs dafür, dass ihr Mann vor Noras Zimmertür auf einem Stuhl Posten bezog, mit der Anweisung, die ganze Nacht über nicht von der Stelle zu weichen.
    Der alte Diener verließ seinen Platz keine Sekunde, nickte aber schon nach kurzer Zeit ein. Die Polizisten hielten dafür pflichtgemäß Wache. Umso erstaunlicher war es daher, dass Nora mitten in stockfinsterer Nacht plötzlich spürte, wie ein Männertaschentuch auf ihren Mund gepresst wurde und die kalte, scharfe Schneide einer Klinge ihren Hals berührte.

     
    Da ich zum ersten Mal bei Jelliffe eingeladen war, traf mich der Anblick seiner extravaganten Wohnung völlig unvorbereitet. Schon das Wort Wohnung war eigentlich völlig unzutreffend, eher schon wurde man an den Ausdruck königliche Gemächer – wie zum Beispiel in Versailles – erinnert, mit denen Jelliffe offenbar wetteiferte. Überall waren blaues chinesisches Porzellan, weiße Marmorstatuen und erlesen geschwungene Möbelbeine – von Kommoden, Sekretären und Kredenzen – zu bewundern. Wenn Jelliffe es darauf angelegt hatte, seinen Gästen einen Eindruck von großem Reichtum zu vermitteln, so hatte er sein Ziel erreicht.
    Inzwischen kannte ich Freud gut genug, um ihm anzumerken, wenn etwas sein Missfallen erregte. Der Bostoner in mir reagierte genauso. Ferenczi dagegen war völlig überwältigt von der Prachtentfaltung. Zufällig hörte ich, wie er in Jelliffes Wohnzimmer – wo uns nicht auf Silber-, sondern auf Goldtabletts Horsd’œuvres serviert wurden – Nettigkeiten mit zwei älteren weiblichen Gästen austauschte. In seinem weißen Anzug war Ferenczi der einzige unter den anwesenden Männern, der nichts Schwarzes trug. Doch dieser Umstand schien ihn nicht im Geringsten anzufechten.
    »So viel Gold«, schwärmte er. Tatsächlich waren selbst die himmlischen Stuckszenerien an der hohen Decke mit Blattgold umrandet. »Das erinnert mich an Operahaz von Ybl in Budapest. Haben Sie schon gesehen?«
    Keine der beiden Damen kannte es. Außerdem waren sie ein wenig verwirrt. Hatte Ferenczi ihnen nicht gerade erzählt, dass er aus Ungarn kam?
    »Ja, ja«, bestätigte Ferenczi. »Ach, schauen Sie, der kleine Putto in Ecke mit winzige Trauben, die hängen von seine kleine Mund. Reizend, nicht?«
    Freud war in ein Gespräch mit James Hyslop vertieft, einem pensionierten Logikprofessor von der Columbia University, der ein Hörrohr in der Größe eines Grammofontrichters an sein Ohr presste. Jelliffe hatte sich zu dem angesehenen Neurologen Charles Loomis Dana gesellt, der sich im Gegensatz zu unserem Gastgeber in den gleichen Gesellschaftskreisen bewegte wie Aunt Mamie. In Boston sind die Danas so etwas wie Hochadel: Mitglieder der Sons of Liberty, auf vertrautem Fuß mit den Adams und so fort. Ich kannte eine entfernte Kusine der Danas, eine Miss Draper aus Newport, die mit ihrer Darstellung eines alten jüdischen Schneiders mehrmals stürmischen Beifall geerntet hatte.
    Jelliffe erinnerte mich an einen vor Freundlichkeit strotzenden Senator. Er strahlte geradezu vor Selbstbewusstsein und trug seine imposante Körperfülle zur Schau, als wäre sie ein untrügliches Zeichen für Männlichkeit.
    Der Verleger zog mich in seine Gruppe, die er gerade mit

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