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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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ich hinzufügen darf, auch die Erklärung dafür, dass die Berührung ihres Halses erfolgreich war, während dies bei der Berührung der Stirn nicht der Fall war. Doch Younger hat diese Einladung ausgeschlagen und sie gebeten, den Schal wieder umzulegen. Das hat sie als Abweisung empfunden.«
    »Sie wirkte tatsächlich irgendwie gekränkt«, warf ich ein. »Aber warum, war mir nicht klar.«
    »Sie dürfen nicht vergessen, dass sie natürlich stolz ist auf ihre Verletzungen. Sonst würde sie diesen Schal überhaupt nicht tragen. Also war sie bereits sensibel dafür, wie Sie auf den Anblick ihres Halses oder Rückens reagieren werden. Als Sie sie gebeten haben, den Schal anzulassen, haben Sie sie beleidigt. Und als sie kurz darauf das Gespräch auf Clara Banwells Rücken gebracht haben, war das, als hätten Sie zu ihr gesagt: ›Ich interessiere mich nicht für Sie, sondern für Clara. Ich will Claras Rücken sehen, nicht ihren.‹ Auf diese Weise haben Sie unwissentlich den Verrat ihres Vaters wiederholt und Nora zu dem plötzlichen, scheinbar unerklärlichen Wutanfall provoziert. Daher ihr heftiger Angriff, gefolgt von dem Wunsch, sich mit Mund und Hals hinzugeben.«
    »Unwiderlegbar.« Ferenczi schüttelte bewundernd den Kopf.

     
    Im Wohnzimmer des Hauses am Gramercy Park teilte Nora Acton ihrer Mutter mit, dass sie nicht die Absicht hatte, heute Nacht in ihrem Zimmer zu schlafen. Sie zog es vor, in dem kleinen Salon im Erdgeschoss zu nächtigen. Von dort konnte sie den draußen postierten Wachtmeister sehen. Nur so fühlte sie sich sicher.
    Das waren die ersten Worte, die Nora nach dem Aufbruch aus dem Hotel an ihre Eltern richtete. Nach der Ankunft zu Hause war sie sofort in ihrem Zimmer verschwunden. Dr. Higginson war gerufen worden, aber Nora weigerte sich, ihn zu sehen. Sie weigerte sich auch, zum Abendessen zu erscheinen, und erklärte, dass sie keinen Hunger hatte. Das stimmte allerdings nicht; sie hatte seit dem Frühstück, das ihr Mrs. Biggs am Morgen zubereitet hatte, nichts mehr gegessen.
    Mildred Acton, die völlig erschöpft auf dem Wohnzimmersofa lag, hielt ihrer Tochter vor, sie sei äußerst unvernünftig. Wenn ein Polizist vor der Eingangstür stand und der andere vor der Hintertür, wie konnte da auch nur die geringste Gefahr bestehen? Auf jeden Fall war es völlig ausgeschlossen, dass Nora die Nacht im Salon verbrachte. Was sollten denn die Nachbarn denken, wenn sie sie da unten entdeckten? Gerade jetzt musste die Familie zusammenhalten und so tun, als wäre keine Schande über sie gekommen.
    »Aber Mutter«, protestierte Nora, »wie kannst du sagen, dass mir Schande angetan wurde?«
    »Wieso, das hab ich doch gar nicht gesagt. Harcourt, hab ich so was gesagt?«
    »Nein, meine Liebe.« Harcourt Acton stand vor dem Couchtisch. Er war mit dem Studium der Post beschäftigt, die sich in fünf Wochen angesammelt hatte. »Natürlich nicht.«
    »Ich habe doch ganz deutlich gesagt, dass wir so tun müssen, als wäre dir keine Schande angetan worden«, stellte ihre Mutter klar.
    »Aber so ist es ja auch, mir wurde keine Schande angetan.«
    »Stell dich nicht dümmer, als du bist«, mahnte ihre Mutter.
    Nora seufzte. »Was hast du da eigentlich am Auge, Vater?«
    »Ach – ein Polounfall«, erklärte Acton. »Hab mir den eigenen Stock reingerammt. Blöd von mir. Du weißt doch noch, meine Netzhautablösung von früher. Dasselbe Auge. Jetzt seh ich rein gar nichts mehr damit. So viel Pech muss man erst mal haben.«
    Niemand ging auf die letzte Bemerkung ein.
    »Also«, setzte Acton hastig hinzu, »natürlich nicht zu vergleichen mit deinem Pech, Nora. Ich wollte damit nicht …«
    »Nicht dort hinsetzen!«, herrschte Mrs. Acton ihren Mann an, der sich gerade in einen Sessel sinken lassen wollte. »Nein, dort auch nicht. Ich hab die Stühle frisch beziehen lassen, bevor wir abgereist sind.«
    »Aber wo soll ich mich denn hinsetzen, Schatz?«, fragte Acton.
    Nora schloss die Augen. Dann wandte sie sich zum Gehen. Doch ihre Mutter war noch nicht fertig. »Nora, wie heißt dieses College noch mal, wo du hinwillst?«
    Das Mädchen blieb stehen, alle Muskeln angespannt. »Barnard.«
    »Harcourt, gleich morgen früh müssen wir den Leuten schreiben.«
    »Warum müsst ihr dem College schreiben?«, wollte Nora wissen.
    »Um ihnen zu sagen, dass du nicht kommst, natürlich. Das ist doch ganz unmöglich jetzt. Dr. Higginson hat gesagt, du brauchst Ruhe. Außerdem war ich sowieso nie dafür. Ein College für junge

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