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Morddeutung: Roman (German Edition)

Morddeutung: Roman (German Edition)

Titel: Morddeutung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jed Rubenfeld
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Datumsangaben«, bemerkte Betty. »Nur Buchstaben.«
    »Die haben bestimmt einen Kalender«, erwiderte Littlemore. »Es gibt immer einen Kalender. Den muss ich nur finden.«
    Er brauchte nicht lang. Er ging zum Schreibtisch zurück, auf dem zwei Schreibmaschinen, Löschwiegen und Tintenfässer standen. Daneben stapelte sich ein Haufen ledergebundener Bücher, die über sechzig Zentimeter breit waren. Littlemore schlug eines auf. Jede Seite stellte einen Tag am New Yorker Supreme Court innerhalb einer bestimmten Gerichtsperiode dar. Die Seiten, die Littlemore überflog, trugen alle Daten des Jahres 1909. Er öffnete das zweite Buch, das sich als Kalender für 1908 erwies, und dann das dritte. Beim Durchblättern stieß er schnell auf den 18. März 1907. Er sah Dutzende Fallnamen und -nummern, die von geübter Hand mit Füllfeder aufgeschrieben, häufig ausgestrichen und ausgebessert worden waren. Mit lauter Stimme las er:
    » Zehn Uhr fünfzehn, Tageskalender, Teil III: Wells vs. Interborough Rapid Transit Co., Truax, J. Okay, also Wells. Wir brauchen Wells.« Er stürmte vorbei an Betty ins Aktenzimmer, wo er in einer Schublade mit dem Buchstaben W den Fall Wells gegen IRT fand: drei zusammengeklammerte Seiten. Er sah sie durch. »Das ist nicht das Richtige. Ein Unfall mit der Untergrundbahn wahrscheinlich. Ist nicht mal zum Prozess gekommen.«
    Er nahm sich wieder den Kalender vor. » Bernstein vs. Selbige «, las er. » Mensinub vs. Selbige. Selxas vs. Selbige. Menschenskind, das sind mindestens zwanzig von diesen IRT-Fällen. Schätze, die müssen wir alle durchschauen.«
    »Vielleicht ist das, was wir suchen, da gar nicht dabei, Jimmy. Gibt’s keine anderen Sachen?«
    » Zehn Uhr fünfzehn, Gerichtsperiode: Tarbles vs. Tarbles. Eine Scheidung?«
    »Ist das alles?«, fragte Betty.
    »Zehn Uhr dreißig, Gerichtsperiode, Teil 1 Strafgericht (Wiederaufnahme des Verfahrens vom Januar): das Volk vs. Harry K. Thaw.«
    Sie starrten sich an. Betty und Littlemore erkannten den Namen sofort, der damals für jeden in New York und für fast jeden im ganzen Land ein Begriff war. »Das ist doch der …«
    Littlemore beendete Bettys Satz. »… der den Architekten im Madison Square Garden ermordet hat.« Dann merkte er erst, warum Betty verstummt war. Im Gang waren schwere Schritte zu hören.
    »Wer ist das?«, flüsterte sie.
    »Mach das Licht aus«, forderte Littlemore Betty auf, die neben der Lampe stand. Sie griff unter den Schirm und fummelte nervös an den Knöpfen herum, mit dem Ergebnis, dass sie noch eine zweite Glühbirne einschaltete. Die Schritte blieben stehen. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung und näherten sich jetzt eindeutig dem Archiv.
    »O nein.« Betty war ganz blass geworden. »Verstecken wir uns im Aktenzimmer.«
    »Lieber nicht.«
    Die Schritte wurden lauter und hielten direkt vor der Tür. Der Griff drehte sich, und die Tür ging auf. Es war ein kleiner Mann in einem weichen Filzhut und einem billig aussehenden dreiteiligen Anzug, dessen Innentasche ausgebeult war, als würde er eine Waffe tragen. »Gibt’s hier keine Toilette?«, fragte er.
    »Im ersten Stock«, antwortete Littlemore.
    »Danke.« Die Tür fiel krachend hinter dem Mann ins Schloss.
    »Komm mit.« Littlemore war schon unterwegs ins Aktenzimmer. Das Volk gegen Thaw füllte ungefähr fünfundzwanzig Schubladen. Littlemore fand die Prozessprotokolle, die aus Tausenden von Seiten bestanden und mit Gummibändern zu zehn Zentimeter dicken Packen zusammengeschnürt waren. Unregelmäßige Buchstaben, fehlende Interpunktion und ganze Sätze aus verstümmelten Worten machten die Lektüre der Mitschrift nicht gerade einfach. Für das Datum 18. März 1907 gab es nur fünfzig oder sechzig Seiten. Littlemore sichtete das Ganze rasch und stieß auf mehrere Blätter, die anders aussahen als der Rest: sauber getippt, in Absätze unterteilt, mit übersichtlicher Zeichensetzung.
    »Eine eidesstattliche Erklärung«, erläuterte er.
    »Ach du Schande! Sieh nur!« Betty deutete auf die Worte packte mich an der Kehle und Peitsche .
    Hastig blätterte Littlemore nach vorn zur ersten Seite der eidesstattlichen Erklärung. Sie trug das Datum 27. Oktober 1903 und begann mit den Worten: Nach ihrer Vereidigung sagt Evelyn Nesbit aus …
    »Das ist doch Thaws Frau, das Revuegirl«, sagte Betty. Evelyn Nesbit war von nicht wenigen in sie vernarrten Schreiberlingen der damaligen Zeit als die schönste Frau aller Zeiten angepriesen worden. Sie heiratete Harry

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