Morddeutung: Roman (German Edition)
Thaw 1905, ein Jahr bevor Thaw den Architekten Stanford White erschoss.
»Bevor sie seine Frau war«, ergänzte Littlemore. Sie lasen weiter.
Ich wohne im Savoy Hotel, an der Ecke Fifth Avenue und Fifty-ninth Street in der Stadt New York. Ich wurde am Weihnachtstag des Jahres 1884 geboren und bin also achtzehn Jahre alt.
Vor dem Juni 1903 war ich mehrere Monate in Dr. Bells Klinik an der West Thirty-third Street, wo ich mich einer Blinddarmoperation unterziehen musste. Im Juni begleitete ich Harry Kendall Thaw auf seine Bitte hin nach Europa. Mr. Thaw und ich reisten durch Holland, hielten an verschiedenen Bahnhöfen, um Anschlusszüge zu erreichen, und dann fuhren wir schließlich nach München. Daraufhin reisten wir durch das bayerische Oberland und gelangten schließlich ins österreichische Tirol. Während der gesamten Zeit gab besagter Thaw uns als Mann und Frau aus und stellte uns überall als Mr. und Mrs. Dellis vor.
»Der falsche Hund«, schimpfte Betty.
»Na ja, wenigstens hat er sie später geheiratet«, beschwichtigte Littlemore.
Nach fünf oder sechs Reisewochen mietete besagter Thaw ein Schloss in Tirol, das auf einem sehr abgelegenen Berg stand. Dieses Schloss wurde wahrscheinlich schon vor Jahrhunderten errichtet, denn die Zimmer und Fenster waren alle sehr altmodisch. Ich bekam ein Schlafzimmer für mich allein.
In der ersten Nacht war ich sehr müde und ging gleich nach dem Abendessen zu Bett. Am Morgen frühstückte ich mit besagtem Thaw. Nach dem Frühstück erklärte Mr. Thaw, dass er mir etwas mitteilen wolle, und bat mich, in mein Schlafzimmer zu gehen. Dort trat besagter Thaw ohne jede Vorwarnung auf mich zu, packte mich an der Kehle und riss mir den Bademantel herunter. Besagter Thaw befand sich in einem furchtbar aufgeregten Zustand. Seine Augen funkelten zornig, und in seiner rechten Hand hielt er eine Peitsche, eine Art Ochsenziemer. Er ergriff mich und warf mich aufs Bett. Ich war wehrlos und wollte schreien, doch besagter Thaw steckte mir die Finger in den Mund und versuchte mich zu ersticken.
Ohne den geringsten Anlass und Grund fing er nun an, mir heftige und äußerst schmerzhafte Schläge mit dem Ochsenziemer zu verabreichen. Die Hiebe waren so brutal, dass meine Haut Risse und Prellungen davontrug. Ich flehte ihn an, von seinem Tun abzulassen, aber er weigerte sich. Er hielt immer wieder inne, um zu Atem zu kommen, bevor er aufs Neue über mich herfiel.
Ich hatte große Angst um mein Leben; die Diener hörten meine Schreie nicht, weil meine Stimme nicht durch das riesige Schloss zu dringen vermochte, und konnten mir daher nicht zu Hilfe eilen. Besagter Thaw drohte, mich zu töten. Aufgrund seiner groben Angriffe, die ich bereits beschrieben habe, konnte ich mich nicht bewegen.
Am folgenden Morgen kam Thaw wieder in mein Schlafzimmer und unterwarf mich einer ähnlichen Züchtigung wie tags zuvor. Er nahm einen Ochsenziemer und prügelte damit auf meinen nackten Leib ein, bis meine Haut aufplatzte und mir die Sinne schwanden. Ich wurde ohnmächtig und erlangte erst nach längerer Zeit wieder das Bewusstsein.
»Wie schrecklich«, ächzte Betty. »Aber warum hat sie ihn dann später geheiratet?«
»Wegen seines Zasters wahrscheinlich.« Littlemore blätterte erneut in der eidesstattlichen Erklärung. »Meinst du, das ist es, worauf uns Susie hinweisen wollte?«
»Das muss es sein, Jimmy. Das Gleiche ist doch der armen Miss Riverford passiert.«
»Ich weiß. Aber das ist eine eidesstattliche Erklärung. Wie soll Susie denn erfahren haben, was da drin steht?«
»Was meinst du damit? Das kann doch kein Zufall sein.«
»Aber wieso soll sie sich an den Tag, an das genaue Datum erinnern, als diese Erklärung im Prozess vorgelesen wurde? Das passt nicht zusammen. Da muss es noch was anderes geben.« Littlemore setzte sich auf den Boden und las weiter im Sitzungsprotokoll. Betty seufzte ungeduldig.
Plötzlich japste der Detective: »Warte, ich glaub, ich hab’s. Schau mal, Betty, das F hier. Das ist der Staatsanwalt, Mr. Jerome, der Fragen stellt. Und jetzt schau mal, wer die Zeugin ist, die Antworten gibt.«
Der Detective deutete mit dem Finger auf eine Stelle im Protokoll.
F. Wie ist Ihr Name?
A. Susan Merrill.
F. Bitte nennen Sie uns Ihren Beruf.
A. Ich unterhalte eine Pension für Herren in der Forty-third Street.
F. Kennen Sie Harry K. Thaw?
A. Ja, ich kenne ihn.
F. Wann haben Sie ihn kennengelernt?
A. 1903. Er hat bei mir vorgesprochen, um Zimmer zu mieten,
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