Mordgier
möglicherweise in den Abendnachrichten käme, er müsse notfalls für Kommentare zur Verfügung stehen. Sean Binchy hatte zweimal angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Gordon Beverly wollte wissen, ob in Sachen Antoine irgendein Fortschritt zu verzeichnen sei.
»Sechzehn Jahre«, sagte ich, »und es ist für sie immer noch frisch. Aber Tony, der seine Mutter gerade verloren hat, hat nicht angerufen, um sich zu erkundigen.«
»Ist das nicht komisch?« Er rief den Cop an, der Mancusi beobachtete, und erhielt die Bestätigung eines eindeutigen Schemas: Das Subjekt blieb den ganzen Tag in seinem Apartment, kam am späten Nachmittag für die kurze Fahrt zu demselben Imbissstand zum Vorschein, aß einen Burrito in seinem Wagen, warf seinen Abfall zum Fenster raus und kehrte nach Hause zurück.
Sean hatte die Initiative ergriffen und die Häuser in dem Stück von Villa Entrada abgeklappert, wo der Bentley stehen gelassen worden war. Kein Nachbar hatte irgendwas gesehen oder gehört, keiner wusste irgendwas von jugendlichen Delinquenten in der Umgebung, die zum Autodiebstahl neigten.
Keine Spur von Kat Shonskys Mustang.
Er spielte mit dem Zettel von Gordon Beverly. »Ich komme mir langsam wie ein Familientherapeut vor. Wenigstens will Kats Mutter noch immer nichts von der Realität wissen.«
»Wenn du sie um eine Blutprobe bittest, tut sie’s vielleicht.«
»Mitochondriale Übereinstimmung mit dem Blut im Bentley? Ich will mal sehen, wie es mit der ursprünglichen Anfrage aussieht.«
Er loggte sich in die Website des Labors in New Jersey ein. »Immer noch weit hinten in der Schlange, und ohne ein bestätigtes Verbrechen wird sie auch dort bleiben. Okay, Zeit, die Beverlys zu enttäuschen.«
Ich sagte: »Ich begreife immer noch nicht, warum Texas Jackson nicht auffordert, genauere Angaben zu machen, bevor du all die Zeit verschwendest.«
»Weil es nicht um Logik oder Moral geht, Alex. Es geht um Politik.« Er legte schwungvoll einen großen Fuß auf den Schreibtisch. Papiere flogen durcheinander und fielen zu Boden. Er machte keine Anstalten, sie aufzuheben. Wickelte einen Zigarillo aus und biss hart zu. Holz splitterte. Er inspizierte die zerquetschte Spitze und warf das ganze Ding in den Papierkorb. Er riss eine Schublade auf und zog einen dünnen blauen Ordner heraus. »Versuchen wir’s noch mal mit Antoines Kumpels.«
Erneuter Anruf bei Bradley Maisonettes Bewährungshelfer, dieselbe Voice Mail, dieselbe Nachricht. Die St. Xavier Highschool informierte ihn, dass Mr. Good sich krankgemeldet habe. Er überprüfte lieber, ob irgendwelche Fahrzeuge auf ihn zugelassen waren, anstatt die Sekretärin um Goods persönliche Daten anzugehen.
»Ein zwei Jahre alter Ford Explorer, Adresse an der North Broadmoor Terrace.« Er blätterte in seinem Thomas Guide herum. »Oben in den Hügeln, in der Nähe der Bowl. Wir sollten ihm einen Krankenbesuch abstatten.«
Sein Schreibtischtelefon schrillte. Was er vom anderen Ende hörte, veranlasste ihn, sich das Jackett zuzuknöpfen und den Knoten seiner Krawatte fester zu ziehen. Er überprüfte seine Schnürsenkel, rollte die Schultern, zuckte fast unmerklich zusammen, stand auf.
»Überraschendes Meeting in Downtown?«, fragte ich.
Er starrte mich an.
»Du hast auf einmal so viel Wert auf deine Erscheinung gelegt.«
»Du Schlauberger. Ja, ja, der Chief möchte einen Plausch mit mir halten, ich soll in seinem Büro sein, bevor es physisch machbar ist.«
»Zu welchem Thema?«
»Anhängige Fälle«, sagte er. »Seine Rechtschaffenheit hat offenbar Anrufe von den Medien zu Mancusi oder Beverly oder beiden erhalten und möchte keinen uninformierten Eindruck machen.«
»Viel Spaß«, sagte ich.
»Ein echtes Kicher-Festival … hast du was dagegen, allein mit Wilson Good zu sprechen?«
»Solange es keine verfahrensrechtlichen Probleme gibt.«
»Ein psychologisch sensibler Fall wie der von Antoine?«, sagte er. »Da ist das Fingerspitzengefühl eines Seelenklempners eindeutig gefragt. Außerdem schätzt der Chief dich und würde es daher billigen.«
»Wann ist das denn zur Sprache gekommen?«
»Beim letzten Mal, als er mich zu sich bestellt hat. Anscheinend hat er das Referat gelesen, das du letztes Frühjahr publiziert hast, und stimmt dir zu, dass Profiling zum größten Teil Blödsinn ist.«
»Der Chief liest psychologische Zeitschriften?«
»Der Chief hat einen Master in Psychologie. Er machte den Vorschlag, du solltest eine Festanstellung bekommen. Ich hab
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