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Mordkommission

Titel: Mordkommission Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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hatten wir unsere Büros verlassen, um zu
     Hause eine Mütze voll Schlaf zu ergattern, und um sieben Uhr versammelten wir uns schon wieder. Gegen neun Uhr meldete sich
     der ältere Sohn des Beschuldigten, Ercan F., telefonisch bei uns und erklärte ohne lange Vorrede und ohne Umschweife, dass
     er auf seinen Cousin geschossen habe. Sein Vater habe mit der Sache nichts zu tun, er habe das Auto seines Vaters heimlich
     und ohne dessen Wissen benützt und es nach der Tat zurückgestellt. Zunächst habe er sich bei einer Freundin versteckt und
     sei dann Richtung Türkei unterwegs gewesen, als er auf der Fahrt durch Österreich von der Verhaftung seines Vaters erfahren
     habe. Und deswegen sei er jetzt auf dem Rückweg nach München, weil er nicht wolle, dass sein alter Vater unschuldig im Gefängnis
     sitze. Schließlich kündigte er an, sich nach seiner Ankunft in München sofort bei uns zu stellen. Ohne Fragen zuzulassen,
     legte er auf. Wir blickten uns an. Vielleicht war der junge Mann bei der Tat ja wirklich allein gewesen. Denkbar wäre aber
     auch, dass ihn sein Vater zum Tatort gebracht hatte und der Sohn die ganze Schuld auf sich lud, um seinen Vater zu schützen.
    Es dauerte tatsächlich nicht allzu lange, bis Ercan F. vor uns saß. Wir erfuhren, dass der Angeschossene sich einem Mädchen
     aus dem Familienverband in unehrenhafter Weise genähert hatte. Das Mädchen, dessen geistige Fähigkeiten man als eher gering
     bezeichnen müsse, sei jedoch kurz danach mit einem entfernten Cousin in der Türkei verheiratet worden und damit war die Angelegenheit
     zunächst einmal in Vergessenheit geraten. Durch einen dummen Zufall war der Ehemann aber eines Tages hinter die »ehrlose«
     Vergangenheit seiner Frau gekommen und hatte sie zur Rede gestellt. Sie gestand, dass ihr Cousin sich an ihr vergangen hatte.
     Nun informierte der erzürnte Ehemann, der sich durch die |54| Heirat mit einer »entehrten Frau« betrogen fühlte, die Familie des Mädchens. Man beschloss im Familienrat, zunächst zu prüfen,
     ob die Angaben des Mädchens glaubhaft seien. Mit Zustimmung der Eltern des Mädchens (!) wurde dieses unter einem Vorwand von
     einem Onkel und ihren Brüdern in einen Wald vor den Toren Münchens gebracht und »befragt«. Dabei wurde das Opfer stundenlang
     gefoltert und schwer misshandelt. Zuletzt wurde an ihr eine Scheinhinrichtung vollzogen. Dies alles geschah, um zu prüfen,
     ob sie die Wahrheit gesagt hatte. Schwer verletzt und blutend wurde die Frau anschließend wieder ihren Eltern übergeben, die
     sie sofort in die Notaufnahme eines Krankenhauses brachten. Längere Zeit musste sie stationär behandelt werden. Die Kosten
     für die Behandlung übernahm ihr Vater, der sich schriftlich beim Peiniger seiner Tochter dafür bedankte, dass er so erfolgreich
     zur Wiederherstellung der Ehre seiner Tochter beigetragen hatte.
    Aufgrund der Standhaftigkeit der jungen Frau während ihrer Folter war die Familie von ihren Worten überzeugt. So beschloss
     der Familienrat, die Ehre der Familie durch die Entmannung des Cousins wiederherzustellen. Seinen etwaigen Tod nahm man dabei
     billigend in Kauf. Als Vollstrecker wurde der älteste männliche Nachkomme der Großfamilie bestimmt, der sich – obgleich hier
     aufgewachsen und kurz vor dem Abitur stehend – nicht getraute abzulehnen. Man besorgte in der Türkei eine Pistole und ließ
     sie dem Großvater des »Auserwählten« in München zukommen. Tatsächlich war Ercan F. allein bei der Tatausführung, inwieweit
     er jedoch durch andere Familienmitglieder beziehungsweise seinen Vater beeinflusst oder in strafrechtlich relevanter Weise
     unterstützt wurde, ließ sich trotz aller Mühen nicht nachweisen. Alle Beteiligten waren miteinander verwandt und machten von
     ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Nach vollbrachter Tat lieferte Ercan F. die Waffe wieder beim Großvater ab. Nach
     dem Geständnis des Schützen gelang es uns buchstäblich in allerletzter Minute, in einem Müllcontainer im Nachbarhaus die Tatwaffe
     aufzufinden. Der Container |55| wurde bereits über den Hof in Richtung Müllwagen geschoben, als die Kollegen mit quietschenden Reifen vor dem Anwesen stoppten.
     
    Das war – in Kurzform – die Geschichte eines fast vollendeten Ehrenmordes, bei dem ein hier völlig integrierter, bei allen
     beliebter junger türkischer Schüler mit hervorragender Schulbildung und besten Berufschancen sich dennoch dem langen Arm seiner
     Vorfahren

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