Mordkommission
Bevor er das Bewusstsein verlor, sagte er noch zu seiner Frau, dass er niemanden gesehen
habe.
Zur systematischen Absuche des unübersichtlichen und weitläufigen Geländes nach möglichen Spuren und nach der Tatwaffe forderte
ich einen Zug der Einsatzhundertschaft |49| an. Andere Beamte führten unterdessen eine Befragung aller Bewohner der Wohnhäuser und des Altenheimes sowie des Pflegepersonals
durch, wobei sich Zeugen fanden, die nach den in rascher Folge abgefeuerten Schüssen schnelle Schritte eines einzelnen Menschen
auf einem angrenzenden Kiesweg vernommen hatten. Ein weiterer Zeuge hatte aus der Richtung, in der sich die Schritte entfernt
hatten, das Geräusch eines startenden Automotors und das Quietschen durchdrehender Reifen gehört.
Die Heimleitung unterstützte die Bemühungen der Polizei in äußerst entgegenkommender Weise. Besonders angenehm empfanden die
rund siebzig Beamten aber wohl den Umstand, dass sie zum Frühstück heißen Kaffee und reichlich dick belegte Wurstsemmeln und
-brote bekamen, was angesichts der frostigen Temperaturen die Lebensgeister spürbar belebte.
Am Tatort lagen mehrere Patronenhülsen. Zur Bestimmung der Schussrichtung beziehungsweise des Standortes des Schützen forderte
ich Spezialisten des Landeskriminalamtes an, die gegen neun Uhr eintrafen und ihre Ermittlungen aufnahmen. Während auf unserer
Dienststelle mit den ersten Vernehmungen der Angehörigen des Opfers begonnen wurde, kam aus dem Krankenhaus die Meldung, dass
alle Schüsse den Unterleib des Mannes getroffen hatten. Der Zustand des Opfers sei kritisch, die Ärzte hofften jedoch, dass
er den Anschlag überleben werde. Den ersten vorläufigen Einschätzungen der Schusswaffensachverständigen zufolge hatte der
Schütze wohl nur wenige Schritte vor seinem arglosen Opfer gestanden. Dieser Umstand und das Verletzungsbild ließen einen
Verdacht in uns aufkeimen: dass der Schütze eine »Entmannung« beabsichtigt hatte. Diese erste Arbeitshypothese gab eine denkbare
Ermittlungsrichtung vor, nämlich im Umfeld des Opfers nach Männern zu forschen, deren Frauen möglicherweise mit ihm eine Beziehung
unterhielten, oder aber nach Frauen, die mit dem Verletzten vielleicht noch eine Rechnung offen hatten. Die umfangreichen
Ermittlungen, die sich im Verlauf |50| der nächsten Tage anschlossen, bestärkten bald schon den Verdacht, dass es sich bei dem Anschlag um eine Racheaktion gehandelt
haben dürfte. Allerdings verhielt sich die türkische Großfamilie des Opfers zunächst ausgesprochen zurückhaltend, was Hinweise
auf mögliche Hintergründe zu der Tat betraf.
Da kam uns – wie dies hin und wieder ja zum Glück der Fall ist – der Kommissar Zufall zu Hilfe. Diesmal in Gestalt eines Autofahrers,
der kurz nach dem Mordanschlag auf der angrenzenden Bundesstraße stadteinwärts gefahren war. Lange nach Feierabend saßen wir
noch zu viert im Büro des Sachbearbeiters und besprachen die letzten Ermittlungsergebnisse, als das Telefon an seinem Schreibtisch
klingelte. Er meldete sich, lauschte kurz und dann merkten wir an seiner Reaktion, dass der Anrufer offensichtlich eine sehr
interessante Mitteilung machte. Der Kollege blickte uns siegessicher an und hob den Daumen in die Höhe. Gleich darauf notierte
er die Personalien des Anrufers. Da dem Kollegen unsere Neugier nicht entgangen war, fragte er seinen Gesprächspartner, ob
er auf laut stellen dürfe, und ließ uns am Gespräch teilhaben. Wir vernahmen die ruhige, sonore Stimme eines Mannes, dessen
Alter ich auf circa fünfzig Jahre schätzte. Der Mann wiederholte nochmals für uns, dass er eigentlich gar nicht vorgehabt
hatte, die Polizei zu verständigen. Doch nachdem er in der Zeitung von dem Mordversuch gelesen hatte, beschloss er, eine Beobachtung
mitzuteilen, die er offenbar kurz nach der Tat gemacht hatte.
An besagtem Tag war er sehr früh unterwegs und kam gegen drei Uhr an dem Altenheim vorbei. Er hatte die zur Straße liegende
Front des Areals fast passiert, als unvermittelt hinter einer Ecke der Mauer eine Gestalt im Scheinwerferlicht auftauchte
und quer über die Fahrbahn rannte, ohne auch nur im Geringsten auf sein Auto zu achten. Durch ein gewagtes Lenkmanöver sei
es ihm in letzter Sekunde gelungen, einen Zusammenstoß zu vermeiden. Es habe sich um einen Mann gehandelt, circa zwanzig Jahre
alt, sportliche Figur, schwarze Haare, etwa 1,70 bis 1,80 Meter groß. Er |51| habe eine
Weitere Kostenlose Bücher