Mordkommission
anders verlaufen waren als das Leben des Mannes hinter mir. Die Anspannung und das Jagdfieber, der unbedingte
Wille, den Täter zu fassen – alles war von einer Sekunde auf die andere wie weggeblasen.
Ja, ich
war’s.
|106| Im nächsten Moment verdrängte die Vernunft alle Gefühlsregungen. Jetzt galt es, das Geständnis aufzunehmen. Dazu steuerten
wir den nächstgelegenen Parkplatz an. Wenig später unterbrach das Klacken des Blinkers das Schweigen, das seit dem Eingeständnis
des Täters wie Blei über uns lastete. Ich merkte, dass auch die Kollegen versuchten, die Situation zu realisieren. Der Dienstwagen
rollte auf einem menschenleeren kleinen Autobahnparkplatz inmitten einer Marschlandschaft aus. Mittlerweile hatte es wieder
zu regnen begonnen, von Böen getriebene Regenschleier peitschten gegen die Scheiben, der Sturm heulte über die flache Ebene
und rüttelte unser Fahrzeug durch. Dann begann der Beschuldigte, ohne von uns unterbrochen zu werden, mit der Schilderung
des Grauens der Todesnacht von Sinead O. Wort für Wort wurde auf dem kleinen Tonband festgehalten. Er sprach von dem Moment, als er tief frustriert von seinem Leben
und dem erneuten Verlust seines Arbeitsplatzes um Mitternacht an der einsamen Isarbrücke im Schatten eines längst geschlossenen
Kiosks auf eine Frau wartete. Auf irgendeine Frau. Die Nächste, die kam, sollte sein Opfer sein. Und das war Sinead. Als Einzige
war sie an der Endhaltestelle ausgestiegen und musste nun noch den weiten Weg am dunklen, dicht bewaldeten Isarufer entlang
zu ihrem Zeltplatz zurücklegen.
Als Otto D. lange Zeit später zu reden aufhörte, stand das Bild der Geschehnisse klar vor unseren Augen. Otto D. gestand auch
eine zweite Tat, die er Jahre später in Bremen verübt hatte. Das Opfer, ebenfalls eine junge Frau, diesmal eine Französin,
war ebenfalls zur falschen Zeit am falschen Ort, ebenfalls ein Zufallsopfer. Sie hatte jedoch insofern Glück, als es ihr nach
der Vergewaltigung gelang, Otto D. das Messer aus der Hand zu schlagen. Das Messer rutschte unter die Zweige eines dornigen
Gebüsches, sodass er es nicht mehr zu fassen bekam und schließlich flüchtete.
Sein Geständnis machte er mit leiser, monotoner Stimme. Er sagte, dass er die schrecklichen Geräusche von Sineads Todeskampf
seit der Tat jede Nacht höre. Es sei ihm seither nicht mehr gelungen, das entsetzliche Bild aus |107| seinem Kopf zu verdrängen oder zu einem Menschen eine feste Beziehung aufzubauen. Sein einziger Halt waren seine Hunde. Und
jedes Mal – zwölf Jahre lang – zuckte er zusammen, wenn er irgendwo die Sirene eines Krankenwagens oder einer Polizeistreife
hörte oder wenn ihm irgendwo in der Stadt ein langsam fahrendes Polizeiauto entgegenkam. Dann war er überzeugt, dass die Beamten
im nächsten Moment aus ihrem Fahrzeug springen und ihn überwältigen würden.
Schließlich setzten wir unsere Fahrt fort, unterbrochen von mehreren Pausen. Wir suchten auf den Rastplätzen stets die entferntesten
Abstellplätze auf, wo Otto D. sich mit seiner Fesselung die Beine vertreten konnte, ohne den Blicken von Neugierigen ausgesetzt
zu sein. Er bekam zu essen, immer wieder Kaffee und konnte bei jeder Pause rauchen. Viele Stunden später – es war längst schon
wieder dunkel – sagte Otto D. bei einer erneuten Pause zu mir, dass er nicht verstehe, warum wir ihn weder anspucken noch
anschreien noch misshandeln würden, warum wir uns ihm gegenüber so menschlich verhielten, obwohl wir doch aus seinem eigenen
Mund gehört hätten, was für ein Monster er sei. Ich weiß nicht, ob er es wirklich verstand, als ich erwiderte, dass es nicht
unsere Aufgabe sei, Menschen zu verurteilen oder gar zu verdammen. Unsere Aufgabe bestehe nur darin, Straftaten zu klären
und dabei so objektiv wie möglich zu ermitteln.
Der Mordfall an Sinead ist ein Paradefall für die Problematik, die sich in Deutschland immer wieder aus der besonderen rechtlichen
Stellung von Tatverdächtigen beziehungsweise Beschuldigten ergibt: Hätte der Beschuldigte von seinem grundgesetzlich garantierten
Recht, noch in Bremerhaven und damit vor Beginn seiner Vernehmung einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen, Gebrauch gemacht, so wäre
der Mord an Sinead O. mit absoluter Sicherheit niemals geklärt und niemals gesühnt worden. Der Rechtsanwalt hätte ihm – das
ist die stereotype Vorgehensweise von Anwälten zumindest im Bereich von Tötungsdelikten – mit |108|
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