MORDMETHODEN
über die Entstehung der Bewusstlosigkeit bei sinkendem Blutdruck gekannt und begriffen. Gleichwohl hat er – 100 Jahre nach Dr. Wendt – den Kopf eines am 18. Juni 1905 guillotinierten Mannes namens Languille untersucht und darüber in den Archives d’Anthropologie criminelle berichtet:
»Der Kopf fiel auf die durchschnittene Fläche des Halses, und so brauchte ich ihn nicht in meine Hände zu nehmen, wie alle Zeitungen in einem wahren Wetteifer berichtet haben; ich brauchte ihn nicht einmal zu berühren, um ihn aufzurichten. Das Glück half mir bei der Beobachtung, die ich machen wollte.
Ich berichte nun, was ich unmittelbar nach der Enthauptung bemerkte: Augenlider und Lippen des guillotiniertenMannes bewegten sich in unregelmäßigen, rhythmischen Zuckungen fünf oder sechs Sekunden lang. Dieses Phänomen ist von all jenen beobachtet worden, die unter den gleichen Bedingungen wie ich verfolgten, was nach der Durchtrennung des Nackens geschah … Ich wartete einige Sekunden. Die krampfhaften Zuckungen hörten auf. Das Gesicht entspannte sich, die Lider schlossen sich halb über den Augäpfeln, sodass nur das Weiße der Netzhaut sichtbar blieb, gerade so, wie wir es jeden Tag in der Ausübung unseres Berufes bei Sterbenden oder gerade Verschiedenen beobachten. Da rief ich mit lauter und scharfer Stimme: ›Languille!‹ Ich sah, wie sich die Augenlider langsam hoben, ohne jede krampfartige Kontraktion – ich betone diese Tatsache absichtlich! –, sondern mit einer ruhigen, ganz deutlichen und normalen Bewegung, wie man es täglich erlebt, wenn Leute aus dem Schlaf oder aus ihren Gedanken gerissen werden. Anschließend fixierten Languilles Augen sehr bestimmt die meinen, und die Pupillen verengten sich. Ich hatte es mit keinem vagen, ausdruckslosen Blick zu tun, wie man ihn von Sterbenden kennt, mit denen man spricht – mich blickten unzweifelhaft Augen an, die lebten.
Nach einigen Sekunden schlossen sich die Lider wieder, langsam und gleichmäßig, und das Gesicht nahm den gleichen Ausdruck wie vor dem Anruf an.
Da rief ich ihn noch einmal an, und wieder öffneten sich die Lider langsam und ohne Zuckung, und zwei Augen, die zweifellos lebten, blickten mich fest an, und zwar noch durchdringender als beim ersten Mal. Und wieder schlossen sie sich, diesmal jedoch nicht so vollständig. Ich machte einen dritten Versuch; es ereignete sich keine Reaktion; die Augen hatten den glasigen Ausdruck, den man bei Toten kennt … Der ganze Vorgang dauerte 25 bis 30 Sekunden.«
Reflexe?
Beaurieux schloss aus seinen Beobachtungen – der Schulmedizin zum Trotz –, dass das Gehirn nach der Enthauptung in allen seinen Elementen weiterlebe. »Ich habe wahrhaftignicht die Absicht«, resümierte er, »eine fantastische Geschichte zu schreiben, wenn ich mich mit einem physiologischen Problem beschäftige. Nichtsdestoweniger wird man wohl zugeben müssen, dass die Großhirnrinde weiter funktionieren kann, wenn man ein Weiterleben des Sehzentrums zugibt, und dass kein Vernunftgrund gegen ein solches Weiterfunktionieren spricht. Das bewusste Wahrnehmen könnte uns nur durch das Individuum selbst enthüllt werden. Und aus diesem Grund ist das Problem im wissenschaftlichen Sinne unlösbar. Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass die Hypothese von der bewussten Wahrnehmung nicht a priori abgelehnt werden kann und sie deshalb verdient, diskutiert zu werden …«
Graven hat von einem Diskussionsbeitrag Benthams berichtet, der durch Versuche festgestellt hat, dass die Empfindungsfähigkeit geköpfter Warmblüter im verlängerten Rückenmark und im Gehirn erhalten blieb.
»Die meisten modernen Physiologen«, schrieb Kershaw, »die dem Problem nur theoretisch näher treten, verhalten sich sehr reserviert einer so bizarren und beängstigenden Vorstellung gegenüber, dass ein vom Rumpf getrennter Kopf seinen eigenen schrecklichen Zustand betrachtet. Und trotzdem sind sie nicht geneigt, diese Möglichkeit einfach zu leugnen. Die Möglichkeit ist gegeben, und sie starrt uns wie eine satanische Grimasse an.«
So satanisch die Fratze auch scheint, sie ist nach heutigem medizinischen Verständnis eher ein gruseliger Traum. Denn obwohl sich kleine Adern vielleicht reflexartig weiten können, dürfte der Blutdruck in einem abgetrennten Kopf (mangels Blut) doch bereits so weit abgesunken sein, dass eine sichtbare Rötung schwer vorstellbar ist.
Auch die berichtete Reaktion des Kopfes ist mit oder ohne Blut kaum denkbar, weil ein Mensch
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