MORDMETHODEN
Dieser Versuch schien Sömmerings Sätzen einiges Gewicht zu geben, welcher behauptet, dass ein abgeschlagener Kopf reden würde, wenn man ihm nur eine künstliche Lunge anpassen könnte.
Als ich das Gehör erprobte, bemerkte Herr Kaufmann Otto, welcher mit der Uhr in der Hand die Dauer des Versuchs bestimmte, dass bereits eine Minute und 30 Sekunden verflossen waren … Ich reizte mit dem Troikart [eine Nadel mit einem Griff; M. B.] etwas höher das getrennte Rückenmark, und die Äußerungen in dem Antlitz des Hingerichteten waren so auffallend, dass mehrere Umstehende ausriefen: ›Dies ist Leben!‹, und ich voll Überzeugung in die Worte ausbrach: Wenn dies nicht Leben und Empfinden ist, was soll Leben und Empfinden sein? Als ich nämlich das Rückenmark reizte, schloss er krampfhaft das Auge, biss die Zähne zusammen, und zuckend näherten sich die Backenmuskeln dem unteren Augenlide.«
Derartige Versuche an Hingerichteten scheinen zu jener Zeit nicht selten gewesen zu sein. In einem Rescript vom 3. März 1804 zur Preußischen Criminalordnung wurden sämtliche »galvanischen und Reizungsversuche mit dem Körper enthaupteter Personen und einzelner Teile desselben« verboten. Ein Gutachten des »Ober-Collegii-Medici et Sanitatis«hatte ihre Majestät König Friedrich Wilhelm III. von Preußen davon überzeugt, »dass durch dergleichen galvanische oder mechanische Reize die Erregbarkeit des Gehirns und mit dieser auch die Tätigkeit desselben, folglich Empfindung und Bewusstsein, wenigstens auf einige Augenblicke, wieder erweckt werden können, welche der Verbrecher durch die Enthauptung augenblicklich verlieret«.
Damit war der Monarch der Sorge enthoben, die in einer vorhergehenden Kabinettsorder an seinen Großkanzler angeklungen war, in der es hieß: »Die Erzählung von den Resultaten der gegenwärtigen Versuche … enthält aber nichts, wovon auf die Dauer des Bewusstseins ein sicherer Schluss gemacht werden könnte … Sonst, wenn es anders wäre, würde es nötig sein, in den Gesetzen über die Strafe des Schwerts eine Änderung zu treffen.«
Das lebhafte Interesse, das die Wissenschaft jener Zeit an derartigen Experimenten nahm, hat seine Ursache in einem Theorienstreit, in dem es um die Frage nach dem Sitz der Seele ging. Einer der Wortführer war der berühmte Samuel Thomas Sömmering, ein deutscher Gelehrter. Ausgehend von der Hypothese, nach der es möglich erschien, dass Gefühl und Empfindungsvermögen des Hirns bei Störungen der Blutzirkulation erhalten bleiben und daher nach der Abtrennung des Kopfes eine Zeit lang fortdauern könnten, wandte er sich in scharfer Form gegen die Anwendung der Guillotine – und löste damit starke Gegenangriffe vonseiten französischer Gelehrter aus. Die Theorien, die aus den Ergebnissen der damaligen Experimente abgeleitet wurden, sind heute wertlos. Eine befriedigende Erklärung der dabei gemachten Beobachtungen hat die moderne Medizin bislang nicht gefunden.
Der Psychiater Alfred Erich Hoche erklärte am 4. Juni 1932 auf dem Badener Neurologenkongress: »Nicht einmal der Akt der Hinrichtung bedeutet ein Leiden. Zahnarzt ist – in diesem Zusammenhang – schlimmer als Guillotine. Die Enthauptung bringt ein leichteres Sterben als fast alle Krankheiten; sie istsehr viel humaner als alle sonst geübten Hinrichtungsmethoden … Die Enthauptung durch die Guillotine muss, auch wenn noch niemand aus eigenem Erleben darüber berichtet hat, als schmerzlos gelten; einfache, auch dem Laien verständliche Betrachtungen, führen zu diesem Schluss. Bewusstsein kann nur bestehen, wenn ein bestimmter Blutdruck in den Hirngefäßen vorhanden ist. Wir wissen, dass ein geringes, noch keineswegs lebensgefährliches Sinken dieses Drucks die landläufige Ohnmacht (Bewusstlosigkeit) herbeiführt. Das Bewusstsein des Delinquenten verschwindet in dem Augenblick, in dem das Fallbeil die großen Halsblutgefäße durchtrennt. Die Empfindung des Schlages aber kommt nicht in demselben Augenblick zum Bewusstsein, da die Nervenleitung eine experimentell messbare und bekannte Zeit von Sekunden braucht. Das Bewusstsein entflieht, ehe die Nachricht von der Durchtrennung der Körpergewebe bei der Zentrale ankommt.«
Diese Auskunft wird man gegenwärtig von vielen Medizinern erhalten. Wer auf diesem Feld jedoch experimentell fragt, bekommt Antworten, die seine Schulweisheit verwirren müssen.
Gewiss hat auch jener Dr. Beaurieux die »einfachen, auch dem Laien verständlichen Betrachtungen«
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