MORDMETHODEN
sind.
Bei der Rolle, die ein Mensch in sozialer und sexueller Hinsicht einnimmt, geht es um die Ehre namus . Die Gesellschaft legt fest, wohin ein Mensch sozial gehört und wie er sich sexuell zu verstehen und zu verhalten hat. Bei Frauen gehört dazu absolute Enthaltsamkeit vor der Ehe, aber auch ein gutes Maß an Zurückhaltung bei der Annäherung an Männer. Dieser aktivere Teil des Rollenverhaltens fällt unter den türkischen Begriff irz . Für Männer gelten die weiblichen, aus der Ehre irz direkt abgeleiteten Regeln praktisch nicht. Mit anderen Worten, ein voreheliches Sexualleben von Männern gilt nicht als falsch.
Die Ehre namus ist also die gesellschaftliche Anerkennung, die ein Mensch in seiner Geschlechterrolle erfährt und wahren soll. Irz fordert hingegen sittsame Keuschheit und züchtige Zurückhaltung im Speziellen.
Eine dritte Art der Ehre ist şeref , die dem zentraleuropäischen Begriff der persönlichen Ehre vielleicht am nächsten kommt. Sie bezieht sich auf die Wertschätzung durch andere, also auf den guten Ruf, den man durch Taten und Aufrichtigkeiterwirbt. Şeref spielt für die Kriminalfälle, um die es hier geht, eine eher untergeordnete Rolle.
Vor allem sexuelle Übergriffe auf eine Frau, aber auch ihr gewollter Ehebruch, schmälern nicht nur bei der Frau Teile ihrer Ehre namus und irz , sondern auch bei ihrer Familie. Hier treten die männlichen Familienmitglieder, besonders die Brüder, auf den Plan, denn sie müssen traditionell die Familie verteidigen – auch gegen Ehrverlust. Da ein Ehrverlust früher zu sozialen und damit auch wirtschaftlichen Nachteilen führte, lässt sich begreifen, warum die Verteidigung mit schwerem Geschütz vorgenommen wurde. Es ging tatsächlich um das Überleben einer ganzen Familie.
Es gibt daher ein Warnsystem, das solche Angriffe von vornherein unterbinden soll. So zeigen türkische Männer aus veralteten Familienstrukturen durch ihr ehrempfindliches Verhalten, dass sie Übertretungen von irz und namus nicht dulden werden. In ihrem ursprünglichen Kulturkreis sind mögliche Störenfriede dadurch abgeschreckt. Gleichzeitig beugen die stolzen Männer mit ihrem Verhalten möglichen Gerüchten vor, sie seien nachgiebig, schwach und unmännlich – schlimmstenfalls sogar namussuz , das heißt ohne namus , unehrenhaft.
Dieses Verhalten erscheint in Zentraleuropa oft als gockelhaft, bevormundend oder gar als brutal machohaft, denn es ist nicht mehr zeitgemäß und aus dem kulturellen Zusammenhang gerissen. Obwohl sich in unserer Zeit die Anpassung an andere Lebensgewohnheiten immer rascher vollzieht, werden Forensiker und Kriminalisten – wie schon unsere früheren Kollegen in Sachen Duell – trotzdem noch lange mit Verbrechen zu tun haben, die das Gewissen zum Schutz der Ehre befiehlt.
* Weitere Informationen zum Thema Duell unter:
http://www.benecke.com/duell.html
2. KAPITEL:
SPUREN
Knochen im Wald
Im Fall Rhafes waren die Leichenteile einander leicht zuzuordnen. Es ist jedoch nicht immer so einfach, einen Zusammenhang zwischen Tat und Geweberesten herzustellen. Ein typisches Beispiel dafür sind die von vielen Ermittlern gefürchteten Knochen im Wald.
Jedes Jahr tauchen irgendwo Knochenstücke auf, von denen man auf den ersten Blick nicht sagen kann, ob sie überhaupt von einem Menschen stammen. Meist ist es unmöglich, die Liegezeit solcher Knochen zu ermitteln – befinden sie sich seit einem Monat, einem Jahr oder einem Jahrhundert an ihrer Fundstelle? Waren sie irgendwo verscharrt gewesen und wurden dann von einem Waldtier ausgegraben und verschleppt? Lohnt sich eine weiträumige Fundortschau oder gar eine Suche mit Hunden oder mit Suchstangen, die zentimeterweise in die Erde gesteckt werden, bis sie auf Widerstand oder in verdächtig lockere Erde stoßen?
Diese Fragen entscheiden, ob aus einem Knochenfund eine Vermisstensache oder vielleicht sogar ein Mordfall wird. Gibt es (nach Anfrage im Vermisstenregister) hingegen weder einen Hinweis auf eine vermisste Person von annähernd der gesuchten Statur noch auf ein Tötungsdelikt (beispielsweise wenn sich Stichspuren auf den Knochen finden), so haben die Ermittlungen von vornherein keinen Sinn.
Bis vor wenigen Jahren gab es daher in vielen rechtsmedizinischen Instituten eine Ecke, in der solche Knochen »auf Halde« lagen. In den USA heftete daran oft ein Zettel mit der Aufschrift »Forensic Anthropologist«. Damit war gemeint, dassein auf die Untersuchung von menschlichen Skelettteilen
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