Mords-Bescherung
so.« Chiara, sehr laut.
»Sprichst aus Erfahrung, oder?« Offene Augen, kaffeebraun, blinken
nervös.
Chiara zuckt die Schultern. Weihnachten haben sie immer gepennt.
Groggy vom wochenlangen Sägen, Vernetzen, Verladen. Zerkratzte Arme, müde
Knochen. Statt »Kling, Glöckchen, klingelingeling« das Kreischen der Motorsägen
in den Ohren. Zum Glück auch der Alte komplett ausgepowert, konnte nicht mal
mehr fies und gemein sein. »Und selber?«
»Vergiss es.« Die schiefen Zähne echt, das Grinsen falsch, die Hände
immer noch am Zittern. »Hast du vielleicht was zu futtern?«
Kopf in Richtung Kekstüte, das Rascheln des Zellophans, die Hand,
die in die Tüte fährt, die Kekse, die hinter den schiefen Zähnen verschwinden.
»Heißen Totenbeinli.«
»Totenbeinli.« Die Hand stockt, greift nicht mehr zu. »Totenbeinli.«
Er kichert. Erst leise, dann lauter.
Irre, findet Chiara, setzt den Blinker, fährt auf den nächsten
Rastplatz, bremst scharf. »Los, raus!« Sie sprintet um den Wagen, reißt die
Beifahrertür auf, blickt in kaffeebraune Panikaugen. »Fahr du weiter!«
Erleichtertes Nicken, dann: »Ich muss mal!«
Er verschwindet in der Dunkelheit, Chiara schwingt sich auf den
Beifahrersitz, durchwühlt den Rucksack.
Wäsche, feste Schuhe, Karten von Afrika, sehr detailliert, Papiere,
die sie nicht versteht, in der vorderen Tasche ein Fahrtenmesser. Sie nimmt es
heraus, legt es unter ihren Sitz, packt die Axt aus dem Fach der Fahrertür
daneben. In einem versteckten Reißverschlussfach fünfhundert Euro und ein Pass.
Sie blättert ihn auf. Zwei Tage älter und drei Zentimeter größer als sie, auf
dem Passbild blonde, kinnlange Haare. Nettes Foto, aber was heißt das schon?
Sie wartet. Der Pick-up das einzige Fahrzeug auf dem Parkplatz,
verwaiste Holztische, kahle Bäume. Zweimal saust ein Wagen über die Autobahn,
sonst nichts. Weihnachten ist tote Hose, keiner unterwegs.
Urs kommt, als sie schon den Rucksack herausstellen und weiterfahren
will.
»Gibt’s was zu beachten?«
»Die Kupplung langsam kommen lassen.«
Er startet den Wagen, wirkt ruhiger, nimmt die Kapuze ab. Sie sieht
die Schwellung über dem rechten Auge sofort, Handkantenschlag, besonders fies,
war eine Spezialität des Alten. »Fährt sich gut.«
Chiara nickt, wirft wieder die CD ein.
Volle Pulle Bässe, Schreie, hartes Schlagzeug, hämmernde Gitarre. Urs’ Hände
trommeln aufs Lenkrad, Fingernägel abgekaut, mehr als ihre. Wegweiser nach
Lausanne, danach geht es hoch in die Alpen. Dann bald gespiegelte Lichter auf
dem See, kahle Weinberge im Scheinwerferlicht. Freie Fahrt, »Bullet for my
Valentine« hört auf zu singen, Urs tritt aufs Gas.
Chiara nickt ein, steht wieder auf der Schonung, die Baumschere in
der Hand, die langen Reihen der Nordmanntannen, viertausend Stück, vor zwölf
Jahren gepflanzt. Bevor der Alte auftaucht, knallt ihr Kopf gegen die
Windschutzscheibe. Chiara sofort auf hundertachtzig, reißt die Augen auf,
greift nach dem Schweizer Messer.
Urs sieht das Messer, fixiert sie mit den Augen, stellt den Motor
aus, grapscht sich langsam den Rucksack. »Merci vielmals.« Steigt aus, läuft
los.
Chiaras Blick folgt ihm. Wieder ein Parkplatz, verloren wie der
letzte. Sie steckt das Messer weg, rutscht rüber, startet den Pick-up, kurbelt
die Scheibe runter, brüllt: »Wo sind wir?«
»Kurz vor Montreux.«
Er geht weiter, sie hupt, fährt neben ihm her. »Wo willst du hin?«
Schulterzucken, weitergehen.
»Komm schon, ich tu dir nichts. Ich hab auch noch Sandwichs.«
»Wieso der Große Sankt Bernhard? Über den Gotthard ist die
schnellere Strecke.«
Renate ist über den Großen Sankt Bernhard gefahren. »Bernhardiner
Hunde, die züchten sie da!« Renate, die alte Tierfreundin. Nicht mal ’ne Katze
durfte sie sich halten. »Ich hab meine Gründe.«
»Okay.« Er grinst. Wieder die schiefen Zähne.
Weiter geht es, hoch in die Berge. Der Weg steil, die Luft kühl,
alter Schnee auf den Felsen, bestimmt minus fünf Grad, manchmal irgendwo in der
Ferne ein Licht. Totenbeinli rutschen über die Ablage, der Pick-up ächzt,
Chiara dreht den Kopf nach hinten. Nichts löst sich, nichts verrutscht. Die
Plane bleibt festgezurrt, zum Glück.
Die Grenzstation am Großen Sankt Bernhard verwaist, kein Zöllner
weit und breit. Hinter der Grenze halten sie kurz an. Das Hospiz liegt im
Dunkeln, die Hunde bellen nicht. Die Luft dünn, der Wind scharf, weht die dünne
Schneeschicht auf, Sichelmond und Sterne ganz nah. Sie fahren
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