Mords-Bescherung
werden: »Das heißt Bouadelle.«
Charlotte lag in der Ecke und rührte sich noch immer nicht.
Leopoldine hatte ihr Weihnachtsgeschenk mitgebracht und legte es auf den Tisch.
»Schau, da ist dein Lieblingssänger drinnen.«
Sie hatte auch für ihre Tochter gedeckt. Ein Teller mit zwei von
Mayonnaise umkränzten Schinkenrollen wartete.
»Komm, iss doch ein wenig, damit du wieder gesund wirst.«
Nachdem das Mädchen sich noch immer nicht regte, meinte der Sohn
ungerührt: »Na gut, wenn sie nicht isst, dann nehme ich mir ihren Teller.« Er
griff nach den Schinkenrollen und schlang die zweite Portion seiner
Lieblingsspeise in sich hinein. Auch die Rindsrouladen nahm er seiner Schwester
weg. Erst als er ihr auch die grellgelben Ananasscheiben mit dem Berg
Schlagobers weggenommen hatte, um sie genüsslich zu verspeisen, protestierte
Willi senior. »Wo frisst du das alles hin? Das kann doch niemand vertragen.«
»Lass ihn doch, wenn es ihm so schmeckt. Außerdem ist er noch im
Wachstum. Und weggeschmissen wird bei uns auch nichts«, verteidigte Leopoldine S.
das große Fressen ihres Sohnes, dachte aber mit Schaudern an die fünfundvierzig
Schnapsfläschchen, die ihr Sohn beim Christbaumschmücken verspeist hatte.
Mittlerweile hielt im Fernsehen Kardinal Dr. König seine
Weihnachtsansprache. »Bescheidenheit. Geben und nicht nehmen, das ist die
Botschaft dieser Heiligen Nacht«, appellierte er an seine Schafe.
Vater Willibald erhob sich, murmelte etwas von »Blödsinn« vor sich
hin, stand vom Küchentisch auf und machte sich wankend auf den Weg zur
Wohnzimmercouch. Der Wein zeigte die volle Wirkung. Auch der Junior erhob sich.
»Mir ist schlecht. Ich lege mich kurz ins Bett.«
»Aber eines sage ich euch: Um zweiundzwanzig Uhr ist die
Christmette, da wecke ich euch wieder auf«, rief Mutter Leopoldine den beiden
hinterher. Sie blieb am Küchentisch sitzen und zündete sich eine filterlose
Zigarette an. Im Fernsehen begann die Verfilmung von Adalbert Stifters
»Bergkristall«. Eine UFA -Produktion aus dem Jahre
1943 mit Heinz Rühmann und Paula Wessely, Regie führte Leni Riefenstahl.
Fünfundzwanzig Jahre später war Vergangenheitsbewältigung in Österreich noch
ein Fremdwort.
Nach den ersten Minuten stand sie auf, räumte den Küchentisch ab und
begann gemütlich Teller für Teller, das Besteck, die Gläser und die Bratpfanne
abzuwaschen. Ab und zu warf sie einen Blick auf den Bildschirm. Da bemerkte
sie, dass sich Charlotte aufzurichten begann.
Mühsam stemmte sich das Mädchen von der Eckbank hoch und blickte auf
die vor ihr liegende Single.
»Das ist der Ricky Shayne. Das ist das Weihnachtsgeschenk von Papa«,
erklärte sie und fuhr fort: »Hast du Hunger? Dein Essen hat sich Willi
genommen, aber ich kann dir ein Speckbrot herrichten.«
Charlotte griff sich mit beiden Händen an den Hals. Sie hatte die
Kinderkrankheit Mumps. Mit einem tiefen Seufzer legte sie sich wieder auf die
Eckbank.
»Oder willst du lieber eine Eierspeise?«
Das Mädchen schwieg.
»Gut, dann nicht. Es wäre ohnehin zu spät. Wir müssen jetzt in die
Christmette.«
Sie ging in das Kinderzimmer, um ihren Sohn aufzuwecken.
»Aufstehen, Willi. Heute ist Heiliger Abend. Die Christmette
beginnt.« Als sie das Licht aufdrehte, stieß sie einen schrillen Schrei aus.
»Willi! Was ist los mit dir?«
Der Junge lag auf dem Rücken regungslos im Bett. Den Kopf hatte er
leicht nach links gedreht. Aus seinem aufgerissenen Mund rann Erbrochenes
langsam auf sein Kinn und das Kopfpolster.
Mutter Leopoldine schüttelte ihren Sohn an den Schultern, zog ihn
hoch und legte ihn auf die saubere Seite des Bettes. Mit dem Leintuch wischte
sie ihm das Erbrochene weg, nahm vorsichtig seinen Kopf und klopfte ihm auf die
Wangen.
»Willi! Was ist los mit dir? Ist dir schlecht geworden? Komm, sag
doch etwas. Bitte! Sag doch, dass es dir gut geht«, flehte sie den Buben an.
Dann stürzte sie in das Wohnzimmer und schrie ihren Mann wach: »Komm sofort. Es
ist etwas passiert! Schau einmal! Dem Willi ist schlecht geworden.«
Widerwillig erhob sich Willibald senior von der Wohnzimmercouch und
folgte seiner Frau. Er sah den Jungen in seinem Bett liegen, neigte den Kopf zu
dessen Mund und sagte: »Der atmet nicht mehr. Los, ruf den Dr. Unterberger
an. Vielleicht kann ihn der noch retten.«
»Den Unterberger kann ich zu Weihnachten nicht stören, der dirigiert
doch den Kirchenchor bei der Mette«, antwortete sie.
»Dann ruf das Rote Kreuz. Aber
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