Mords-Bescherung
schnell.«
Als nach einer halben Stunde die Rettung aus Gmunden kommend
eintraf, konnte der Notarzt nur mehr die Todesursache feststellen. Sie lautete:
Tod durch Ersticken im eigenen Erbrochenen. Mutter Leopoldine kniete
schluchzend vor ihrem toten Sohn und betete ein »Vaterunser« und ein »Gegrüßest
seist du, Maria« nach dem anderen.
Der Vater winkte den Arzt in die Wohnküche. Beide nahmen am Tisch
Platz. Man kannte sich. Rasch nahm der Mediziner ein Formular aus seiner
Aktentasche und begann den Totenschein auszufüllen: Tod durch Ersticken im
eigenen Erbrochenen.
Willibald S. rückte ganz nahe an den Arzt heran und hielt ihn
mit seiner rechten Hand vom Schreiben ab. »Die Sache ist für mich als
Bezirkshauptmann äußerst unangenehm. Irgendwer könnte mir unterlassene
Hilfeleistung andrehen«, sagte er mit leiser Stimme, »kannst du nicht eine
andere Todesursache anführen? Zuckerkoma zum Beispiel?«, fragte Willibald S.
Als ihn der Arzt fragend anblickte, fügte er noch hinzu: »Bei uns im Bezirk
wird demnächst die Stelle des Sanitätsdirektors ausgeschrieben.«
Wortlos holte der Notarzt ein weiteres Formular aus seiner
Arzttasche und begann einen neuen Totenschein auszufüllen. Da regte sich
Charlotte auf der Eckbank.
»Was ist denn mit ihr los?«, fragte der Arzt, stand auf, beugte sich
über die Zwölfjährige und hielt seine Hand an ihre feuchte Stirn. »Sie hat mehr
als vierzig Grad Fieber. Seit wann liegt sie hier?«
»Ich glaube, seit vorgestern Abend«, antwortete der Vater.
Der Arzt wickelte Lotte den Schal ab und betastete den völlig
angeschwollenen Hals. »Mumps ist eine gefährliche Kinderkrankheit. Unbehandelt
führt er zu schweren Gehirnschädigungen und oft zu Epilepsie. Wir nehmen sie
mit in das Krankenhaus Gmunden.«
WEIHNACHTEN 1969
Es ist siebzehn Uhr. Vom Fernsehgerät in der Wohnküche
erklingt das weltberühmte Weihnachtslied »Stille Nacht, heilige Nacht«,
gesungen von den Wiener Sängerknaben unter der Leitung von Ferdinand Grossmann.
In der gesamten Wohnung hängt der herrliche Duft von kräftig angebratenen
Rindsrouladen. Die Mutter hat drei Teller mit Schinkenrollen auf dem
Küchentisch vorbereitet. Im Kühlschrank warten Ananasscheiben aus der Dose mit
einem Berg Schlagobers.
Ihre Frisur sitzt. Die Dauerwelle ist ganz frisch.
Im Wohnzimmer steht Familie S. vor dem Christbaum. Mutter
Leopoldine hat ihn nach allen Regeln der Kunst geschmückt. Die Likörflascherl
hängen in Reichweite. Lametta ist üppig und regelmäßig verteilt. Die Kerzen
brennen, und der Christbaumspitz glänzt wenige Zentimeter unter der hölzernen
Zimmerdecke in voller Pracht. Ihr Mann ist wieder einmal erst eine halbe Stunde
vor der Bescherung nach Hause gekommen.
Mutter Leopoldine singt aus voller Kehle »… einsam wacht nur
das traute hochheilige Paar«. Bei »holder Knabe im lockigen Haar« kommen ihr
die Tränen. Sie denkt an ihren vor einem Jahr verstorbenen Sohn. Der fesche
Herr Bezirkshauptmann Willibald S. brummt schwer angetrunken mit.
Die dreizehnjährige Tochter Charlotte kommt nur bis zur zweiten
Strophe. Ein schwerer epileptischer Anfall lässt sie auf den Christbaum
stürzen, der sofort lichterloh zu brennen beginnt.
Brigitte Glaser
Stille Nacht im Nirgendwo
Da! Die Lichter der Schweizer Grenzstation. Zwei graue
Zöllner. Vor dem Pick-up ein alter Lada mit ausländischem Kennzeichen.
Irgendwas Osteuropäisches. Der Russe oder Rumäne kriegt die volle Dröhnung:
Papiere, Aussteigen, Kofferraum. Gut so. Chiara lässt den Pick-up schnurren,
poliert die Zahnlücke, übt ein Lächeln: unschuldig, ungezwungen. Braucht es
nicht, der Zöllner winkt sie durch. »Frohe Weihnacht«, wünscht sie, und ihre
Hand zittert, als sie die Karre hochfährt.
In Basel leere Straßen, kein Betrieb bei Ciba Geigy, alle unterm
Tannenbaum. Sie wird gut durchkommen. An den Grenzübertritt nach Italien will
sie noch nicht denken. Bern, neunzig Kilometer, sie tritt aufs Gas. Ihr
Autoradio dudelt Weihnachtslieder. Sentimentaler Scheiß. Chiara wühlt sich
durch den Krempel auf dem Beifahrersitz, wirft »Bullet for my Valentine« in den CD -Player, brüllt: »I don’t wanna see that
my life is burning«. Nicht denken. Nur nicht denken.
Seit vierzig Stunden wach, die Fahrt nach Italien ein
Wahnsinnstrip. Hinter Fribourg eine offene Raststätte, sie braucht Koffein. Es
ist nicht viel los auf dem Parkplatz, ein paar verlassene Laster, zwei
Familienkutschen. Der Rasthof dunkel, aber die Tanke
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