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Mords-Bescherung

Mords-Bescherung

Titel: Mords-Bescherung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Weidinger
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weiter ins
Aostatal. Wieder Serpentinen, schroffe Felsen, wildes Wasser, teils zu Eis
erstarrt.
    Endlich ein paar Häuser wie aus dem Nichts, Glocken läuten in der
Ferne, Christmette, na klar. Nirgendwo ein Mensch. Im Auto kein Laut, Urs hängt
über einer Karte, Chiara sitzt aufrecht am Lenkrad.
    Stille Nacht im Nirgendwo.
    In Aosta fahren sie auf die Autobahn. Urs grinst, Chiara grinst,
schiefe Zähne und Zahnlücke. Die Autostrada frei, Wegweiser nach Torino,
Alessandria. Sie wechseln sich wieder beim Fahren ab.
    Chiara spürt die Hand an der Schulter, schreckt auf. Sie ist
tatsächlich eingeschlafen. Wieder eine Raststätte, ein Wegweiser nach Genua.
    »Hier muss ich raus.«
    »Genua also.«
    Er nickt, faltet die Karte, greift nach dem Rucksack.
    »Und dann?«
    »Marokko, Tunesien, vielleicht Kenia. Es ist überall besser, wo man
nicht …«
    Chiara nickt. Noch einer, der nicht weiß, wo er hingehört. Noch
einer, der nicht weiß, was er sucht. »Reisende soll man nicht aufhalten.«
    Er zuckt mit den Schultern, steigt aus. Sie rutscht hinters Lenkrad.
Er beugt den Kopf zu ihr hinunter: »Schade. Die Umstände und so. Wer weiß …?«
Die schiefen Zähne, ein letztes Mal.
    Sie nickt, gibt Gas, schaut nicht zurück. Sechs Uhr morgens, sie
kauft frischen Kaffee an der Tanke, Fenster runter, es riecht schon nach Meer,
ist wärmer als in Deutschland. Noch zwei Stunden Fahrt, bald wird sie das Meer
sehen und dann …
    »Rasier mir den Bart, schneid mir die Zehennägel, lass mir ein
Bad ein«, hört Chiara den Alten kommandieren, dabei ist er nie krank gewesen,
hat brüllen, schlagen, schimpfen können, aber Renate hat gehorcht, immer wieder
gehorcht. Ihm die ekligen Füße gewaschen, die verhornten Nägel gestutzt, das
Kinn eingeschäumt, die grauen Bartstoppeln rasiert. »Schneid ihm in den Hals«,
hat Chiara ihr mehr als einmal zugeflüstert, »dann ist es vorbei«. Aber Renate
hat nur traurig den Kopf geschüttelt, ist kränker und kränker geworden. Ein
kalter Dezembertag vor drei Jahren, minus zehn Grad, eisiger Ostwind, der Alte
hat kleine Fichten geschlagen. Renate fiebrig, konnte sich kaum auf den Beinen
halten. »Bleib im Haus«, hat Chiara sie angefleht, aber der Alte: »Nix da, das
schafft das Gör nicht allein«, und Renate, gehorsam wie immer, raus in die
Kälte, die Kiefern vernetzt und verladen, danach glühend ins Bett und morgens
ganz kalt, von allen Qualen erlöst.
    Chiara leckt die Tränen, spürt die Schwielen an den Händen, die
Blasen an den Fingern, die Arme, zentnerschwer, Schmerz in jedem Muskel, die
stundenlange Arbeit mit der Baumschere. Draußen finsterste Nacht, die
Autostrada leer, die Berge schemenhaft, undurchdringlich. Die nächste Ausfahrt,
dann ist sie am Meer.
    Sie hat nicht weggehen können nach Renates Tod, keine Kraft. Der
Alte auch schwächer, das Herz. Ansonsten tyrannisch wie immer. Was trifft ihn
am härtesten? Was vernichtet ihn? Ganz plötzlich hat sie es gewusst.
Viertausend Nordmanntannen, zwölf Jahre alt, zwei bis drei Meter groß, nächstes
Jahr beim Verkauf mindestens achtzigtausend Euro wert. Der Alte hat die Bäume
gehätschelt, wie er’s mit Tochter und Enkelin nie getan hat. Letzte Nacht ist
Chiara mit Leiter und Baumschere losgezogen, hat jede einzelne Baumspitze
gekappt, mit jedem Schnitt zweihundert Euro in den Sand gesetzt, bei jedem
Schnitt an Renate gedacht, an die Schläge, die Schmerzen, die Narben. Sie ist
fast fertig, als der Alte im Nachthemd auf die Schonung torkelt. Da hat sie die
Motorsäge geholt.
    Plötzlich das Meer! Aufgewühlt, unberechenbar. Der Geruch von
Weite. Das erste Morgenlicht, winterlich kalt und blau. In der Ferne lösen sich
milchige Nachtwolken auf. Camogli drei Kilometer. Pinien am Wegrand, nirgends
Tannen.
    Danach hat sie den Pick-up beladen, ist zurück ins Haus, hat in
ihrem Verschlag ein paar Klamotten gepackt, ist ins Zimmer des Alten gegangen.
Seit der Umstellung auf den Euro hat er keinen Cent mehr auf die Bank gebracht,
alles in einem Koffer unter seinem Bett versteckt. Den greift sie sich, er ist
voller Geldscheine, die zählt sie nicht, nimmt nur vier Fünfziger raus,
schließt den Koffer wieder, schnürt ihn auf der Ladefläche des Wagens fest,
bedeckt ihn mit Tannenzweigen.
    Chiara öffnet das Fenster, riecht das Meer, fährt weiter,
kriecht bald im zweiten Gang durch die engen Straßen von Camogli. »›Haus der
Frauen‹ heißt der Ort«, hat Renate erzählt. »Seemannsbräute. Die Männer oft
monatelang auf dem

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