Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
deppertes«, wiederholte Sandra.
Gabriel war versucht, laut aufzulachen, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen.
»Ach, komm mal her.« Er deutete eine freundliche Geste an, als wollte er sie zu sich winken und in den Arm nehmen. »Das hätte schlimmer sein könnte.«
In Sandras kleinlauten Ton mischte sich deutliche Empörung: »Das Gemeine ist, die waren alle viel älter als ich. Richtige Gruftis.« Vermutlich jünger als ich, dachte Gabriel. »Und ausgerechnet ich bin es, die stolpern muss!« Sie lehnte die Stirn an seine Schulter und schluchzte.
»Mensch, Mädchen«, sagte Gabriel. Der Teufel wusste, was sich da am Wochenende abgespielt hatte. Erst einmal würde er der alten Faustregel folgen und bis zweiundzwanzig zählen. Bis dahin hatten sich die meisten Frauen wieder beruhigt.
Er war bei vierzehn angelangt, als Sandra noch einmal schniefte, dann löste sie sich von ihm.
»Eigentlich«, sagte sie, wobei sie ihn flehentlich ansah, »bin ich ja krankgeschrieben, Chef. Mit einem verknacksten Knöchel kann man schlecht auf Mörderjagd gehen, das sieht wohl jeder ein. Aber ich könnte ja privat … ich meine, während ich krankgeschrieben bin … also, in der Villa Undine ist jetzt doch ein Zimmer frei geworden.«
Gabriel hätte etwas darum gegeben, wenn er jetzt eine geeignete Formulierung parat gehabt hätte, zur Not auch auf Bayerisch, um ihr gleichzeitig Paroli zu bieten, mit ihr zu schimpfen und doch Sympathie auszudrücken. Da ihm aber keine passende Antwort einfiel, blieb ihm nichts anderes übrig, als nachzugeben. Er nahm den Autoschlüssel, quetschte sich in Sandras Smart und fuhr allein los. Im Rückspiegel sah er, wie sie ihm begeistert nachwinkte und dabei vor Freude in die Luft sprang. Sieh an, eine Spontanheilung, dachte der Kommissar. Das Mädel lacht mich aus. Oder zog sie vor Schmerzen eine Grimasse? Während er noch nachdachte, war er schon um die nächste Ecke gebogen und konnte sie nicht mehr sehen.
3.
Die Villa Undine war ein in die Jahre gekommener Kasten, bei dessen Anblick selbst Hardcore-Romantiker als Erstes nach den Heizkosten fragten. Und auch die nüchternsten Zeitgenossen, die nur mit geringer Fantasie begabt waren und keinerlei esoterische Neigung verspürten, dachten auf Anhieb: »Vorsicht, Gespenster!« Malerisch oberhalb des Sees am Hang gelegen, war das Haus kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges fertiggestellt worden und hatte nur für kurze Zeit dem Zweck gedient, für den es erbaut worden war. Während zweier fulminanter Sommermonate durfte es Feriendomizil und Fabrikantenvilla spielen, um dann – zwei Tage vor jenem ominösen 1. August, an dem der deutsche Kaiser Russland den Krieg erklärte – zum Schauplatz einer blutigen Tragödie zu werden. Friedrich Ferdinand, der älteste Sohn der Familie, ein Student der Jurisprudenz im vierten Semester, der zu den schönsten Hoffnungen Anlass gab, war während eines Gartenfestes erschossen aufgefunden worden. Der feige Mörder wurde nie überführt, die Hintergründe der dubiosen Tat blieben unaufgeklärt.
Eine abergläubische, aus Argentinien stammende Großmutter hatte sich sofort darangemacht, sämtliche Spiegel sowie alle hinter Glas gerahmten Bilder mit schwarzen Tüchern zu verhängen. Zwar hatte sie gründliche Arbeit geleistet, aber eben doch nicht gründlich genug: Die gute Frau hatte ausgerechnet die beiden kleinen Hinterglasmalereien im Treppenhaus übersehen, die zwei eindrucksvolle Szenen aus der einheimischen Folklore zeigten, einerseits die drei Wilden Weiber von Berg und andererseits den Drachen, der angeblich in der Mitte des Sees hauste und sich einem kleinen Jungen zeigte, der gerade einen Kieselstein in das Wasser warf. Ob dieses Versäumnisses wurde der Spuk, der von da an in der Villa sein Unwesen trieb, stets der argentinischen Großmutter zum Vorwurf gemacht.
War der ältere Sohn schon immer der ganze Stolz seiner Eltern und Augapfel seiner ihn abgöttisch liebenden Großmutter gewesen, so stellte die Familie nun plötzlich fest, dass ihm sein jüngerer Bruder an Klugheit, Schönheit und charmantem Wesen eigentlich in nichts nachstand. Doch nur wenige Wochen ruhten all ihre Hoffnungen auf ›dem Kleinen‹, als den sie ihn bislang wahrgenommen hatten. Ohne auf die flehentlichen Bitten seiner Mutter Rücksicht zu nehmen, absolvierte der kriegsbegeisterte junge Mann ein schnelles Notabitur und eilte sodann an die Marne, um sich ebenfalls erschießen zu lassen. Dieser zweite Schlag brach der Mutter
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