Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
das Herz und dem Vater das Rückgrat. Er verspekulierte sich völlig, musste erst das Haus, später auch seine Fabrik verkaufen und nahm sich im November 1919 das Leben, wobei er ebenfalls zu einer Schusswaffe griff.
In den folgenden Jahrzehnten wurde die Villa Undine zur Zeugin bewegter Zeiten. Erst gehörte sie einer recht über kandidelten emigrierten russischen Gräfin, die angeblich eng mit der Zarenfamilie befreundet gewesen war, dann einem hohen nationalsozialistischen Parteifunktionär, der an den Wochenenden gern den Führer und Konsorten in sein ›bescheidenes Landhäuschen‹ lud, wie er sich auszudrücken beliebte. Später war sie mal Lazarett, mal Luxusherberge, und schließlich Sitz der sogenannten Starnberger Sezession, einer Künstlergruppe, die sich der Freikörperkultur verschrieben hatte. Ihre Mitglieder ertüchtigten im Garten hinter dem Haus ihre Körper und feierten, wie man munkelte, wilde Orgien, an denen ausschließlich Männer teilnahmen. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts geriet das Haus in den Besitz der Stadt Starnberg, die die Immobilie an verschiedene Hoteliers in Folge verpachtete, von denen einer glückloser war als der andere. Da man sich im Gemeinderat nicht darüber einigen konnte, wofür man die Villa sonst noch nutzen könnte, hatte die Stadt sie schließlich abgestoßen und an die jetzige Eigentümerin verkauft.
Egal aber, wen die Villa Undine beherbergte, sämtliche Bewohner schworen Stein und Bein, dass alljährlich an milden Septemberabenden erregte Jungmännerstimmen im Pavillon zu hören waren. Worüber die Unsichtbaren stritten, darüber gingen die Meinungen auseinander. Lediglich in einem Punkt stimmten alle Zeugenaussagen überein: Was dem Disput der Geisterstimmen regelmäßig ein Ende setzte, war ein Schuss, dem ein – immer wieder grauenvoll anzuhö render – lang gezogener Seufzer folgte. Und dann herrschte Ruhe im Garten.
So weit war Gabriel mit der Lektüre einer kleinen Broschüre über die Geschichte des Hauses, die man ihm in der Eingangshalle in die Hand gedrückt hatte, gekommen, als Gräfin Goszinny endlich ausrichten ließ, dass sie gleich Zeit für ihn habe. Auf sein Klingeln hin hatte ihm zunächst niemand geöffnet. Endlich, nach allerlei Rufen, Klopfen, nach Drohungen und sogar auch Verwünschungen von seiner Seite, die er vor sich selbst damit rechtfertigte, er müsse sich im Bayerischen üben, hatte sich ein junger Mann seiner erbarmt. Goschi, wie dieser Martin Sonnleitner die Gräfin nannte – Gabriel hatte einen Moment gebraucht, bis er verstand, von wem der junge Mann sprach –, Goschi sei gerade mit einer Rückführung befasst, da dürfe man auf keinen Fall stören. Ob der Kommissar in der Halle warten wolle? Sich selbst hatte Sonnleitner als »Goschis Ziehsohn« vorgestellt. In einem früheren Leben sei er schon einmal ihr Kind gewesen, aber im Alter von drei Monaten einen plötzlichen Kindstod gestorben. Das erzählte er in einem freimütigen Ton und ganz ernsthaft. Gabriel nickte schweigend. Dann hatte Sonnleitner sich entschuldigt, er habe Mittagsdienst und müsse das Essen vorbereiten, ob Gabriel sich nicht vielleicht über die Geschichte des Hauses informieren wolle.
Und hier saß er nun.
Die Gräfin Goszinny war freilich von einem anderen Kaliber als der junge Mann. Trotz ihres scheinbar entspannten Plaudertones – »Nennen Sie mich einfach Goschi, das machen alle« – schien sie Haare auf den Zähnen zu haben. Auch die Tatsache, dass sie auf der Sitzbank an der gegenüberliegenden Wand, ungefähr zehn Meter Luftlinie von Gabriel entfernt, Platz genommen hatte, sprach für sich. Allerdings hatte sie keine Probleme, die Distanz zwischen ihnen mit ihrer tiefen, rauchigen Stimme zu überbrücken. Auch schien es sie nicht zu bekümmern, ob jemand ihnen zuhörte oder nicht; vermutlich war ihr Organ noch im entlegensten Dachkämmerchen auf der obersten Etage zu hören.
Während »Goschi« sprach, hatte Gabriel reichlich Gelegenheit, sein Gegenüber in Augenschein zu nehmen. Das Alter der Gräfin war schwer zu schätzen, zwischen fünfundfünfzig und fünfundachtzig war alles möglich. Sie konnte ebenso gut als verlebte Junge wie als gut konservierte Alte durchgehen, und wenn Wolf Gabriel das bei einer anderen Frau vielleicht als kritischen Punkt gesehen hätte, so fand er es bei ihr gerade faszinierend. Er konnte gleichzeitig ein strenges altes Weib und ein verspieltes junges Mädchen erkennen, und wenn sie im einen Moment
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