Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
als Gabriel ihrer Blickrichtung folgte, sah er den ihm schon bekannten Martin Sonnleitner aus dem Küchentrakt zur Eingangshalle streben. In der Hand schwang er eine Art Kochlöffel. Oder nein, es war ein Klöppel, mit dem er jetzt auf den großen Gong schlug, der in einer Ecke an der Wand hing. Obwohl Gabriel sah, wie der junge Mann zum Schlag ansetzte, fuhr ihm der Klang des Gongs durch Mark und Bein. Es war ein Hall, der imstande war, Tote wieder aufzuerwecken, und den Lebenden signalisierte, dass ihr sofortiges Erscheinen erwartet wurde. Und siehe da, schon strömten sie von allen Seiten herbei, schritten einzeln oder zu zweit die Treppe herunter, traten in kleinen Grüppchen durch die Haustür oder schlenderten, verhalten plaudernd, vom Garten her über die Terrasse ins Haus. Gleich darauf stand Gabriel, mit beiden Händen eine hohe Stuhllehne umklammernd, im Esszimmer und wartete geduldig, bis Gräfin Goszinny ihr seltsames Tischgebet vollendet hatte. »Wir gedenken auch unseres Bruders Konrad, über den wir nihil nisi bene sagen werden, und wünschen dir, Konrad, dass du bald endgültig von uns scheiden kannst und dich freundliche Wesen sicher in die nächste Sphäre geleiten.«
Da man Gabriel zur Rechten der Gräfin platziert hatte, half er ihr zunächst höflich, wenngleich nur andeutungsweise, ihren Stuhl in die gewünschte Position zu schieben, dann erst setzte er sich.
Gräfin Goschi – allmählich gewöhnte sich der Kommissar an den Spitznamen – stellte ihn formvollendet als Kriminalhauptkommissar Wolf Gabriel vor und erklärte nicht ganz korrekt, dass er »für den Mord an unserem armen Konrad« verantwortlich sei.
»Genauer gesagt, für die Aufklärung desselben«, stellte Gabriel richtig. Für die Dauer des Essens hatte er freilich beschlossen, soweit wie möglich zu schweigen. Er wollte zuhören und sich zunächst ein Bild von den Leuten machen, ehe er sie nach dem Essen der Reihe nach einzeln befragte. So musterte er die Teilnehmer der Tafelrunde möglichst unauffällig aus den Augenwinkeln, während er sich scheinbar hingebungsvoll seinem vermeintlichen Hackbraten widmete. Beim zweiten Bissen musterte er, der Fleischfan, den ›Falschen Hasen‹ allerdings eingehend. Das war doch kein Hack, was er da auf dem Teller hatte?
Der Mann, der ihm schräg gegenübersaß, schien Gabriels skeptischen Blick bemerkt zu haben. »Sojagranulat«, zischte er ihm quer über den Tisch zu. Was es nicht alles gab! »Damit kann ich bei Mutter nicht punkten«, raunte der Kommissar zurück und erntete bei seinem Gegenüber ein verständnisvolles Lächeln. Einen Moment zu spät fiel Gabriel ein, dass er den Hund ja im Hotel gelassen hatte. Vermutlich hatte der Mann seine Bemerkung missverstanden und hielt ihn jetzt für eine Art Muttersöhnchen. Aber was die Leute von ihm dachten, war ihm letztlich egal.
Neben dem Mann saßen drei Damen, bei deren Anblick der Kommissar unweigerlich an die drei Wilden Weiber denken musste, von denen in der Broschüre die Rede war. Sie waren alle drei in weite Wallegewänder aus grobem Leinen gehüllt und hatten, um den Partnerlook zu vervollständigen, ihre Haare einheitlich im selben Amaryllisrot gefärbt, einer Farbe, die sich bei den Damen ab einem bestimmten Alter einer für Gabriel völlig unverständlichen Beliebtheit erfreute. In seinen Augen hätte man sie aus ästhetischen Erwägungen verbieten sollen. Was war gegen ein ehrliches Grau einzuwenden?
In einem jedoch unterschieden sich diese drei nicht mehr ganz jungen Grazien von den Wilden Weibern. Waren jene, der Legende nach, besonnen und scheu, so waren diese hier gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen und die Gesellschaft bei Tisch mit munterem Geplauder zu unterhalten. Lag es daran, dass die Frauen in dieser Runde insgesamt in der Überzahl waren? Oder daran, dass der Typ Mann, der sich hierher … nun ja, verirrte, eher von der zurückhaltenden Sorte war und wenig Paroli bot? Mit einem Anflug von Schadenfreude dachte Gabriel an Sandra. Sie würde noch merken, dass es Prickelnderes gab, als in der Villa Undine undercover zu ermitteln.
Außer Martin Sonnleitner und dem Mann, mit dem er sich kurz über die Grundlage des Falschen Hasen verständigt hatte, saßen nur noch zwei weitere Männer am Tisch, ein alter und ein junger. Der Alte hatte eingefallene Wangen und müde Augen und stocherte lustlos in seinem Essen herum. Als er Gabriels Blick auffing, verzog er die Lippen zu einem Lächeln und entblößte dabei einen
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