Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
Die Leute erwarten eine Hexe mit rot gefärbten Haaren und einer Warze auf der Nase. Wenn sie mich dann in natura sehen, sind sie enttäuscht.«
»Würden Sie sich denn als Hexe bezeichnen?«
»Kommt drauf an, was man darunter versteht. Zaubern kann ich nicht. Aber sicher waren viele der Frauen, die in barbarischen Zeiten als Hexen verunglimpft, verfolgt, vernichtet wurden, mit der Gabe der Hellsichtigkeit ausgestattet. Als ich jung war, bezeichnete man Menschen wie mich als ein Medium. Channel, so nennt man das heutzutage. Letztlich geht es aber doch immer um dasselbe, den Kontakt mit der geistigen Realität.«
An der Tür war ein Schaben zu hören, dem ein Klirren und Scheppern folgte. Dann sprang sie auf und gab einen Blick auf Martin Sonnleitner preis. Er balancierte ein Tablett, von dem ein paar Gläser auf den Boden gerutscht und zerbrochen waren. In Anbetracht der misslichen Situation klang sein Fluchen erstaunlich moderat. Goschi und Sandra eilten ihm zu Hilfe, von der anderen Seite sprang ein mittelalter Mann herbei, der sich, während er einige größere Glasscherben auflas, als Frank Bischoff vorstellte und Sandra nach ihren Erfahrungen in früheren Leben befragte. Als sie sich eine Viertelstunde später mit den anderen Hausgästen am Abendbrottisch niederließ, gehörte sie bereits zu einer eingeschworenen Gemeinschaft.
8.
In der Villa Undine herrschte ab zweiundzwanzig Uhr Nacht ruhe, was nicht hieß, dass alle Bewohner des Hauses früh schlafen gingen. Frank Bischoff hatte Sandra über einige Marotten der anderen Gäste aufgeklärt, wobei es ihr freilich so vorkam, als wäre er besonders an ihren eigenen Vorlieben interessiert. Sie hatte sich bedeckt gehalten – »Ich bin müde von der Reise und werde heute wohl früh schlafen gehen …« – und lieber ihn reden lassen. Er hatte ihr etwas erzählt von Kiffern, Mondsüchtigen und Männern älteren Datums, die das Fensterln nicht lassen konnten – offenbar hatte sich hier eine lebenslustige Gesellschaft zusammengefunden.
Um zehn nach zehn klingelte ihr Handy, Wolf Gabriel war am Apparat. Sandra warf sich aufs Bett, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Turnschuhe abzustreifen.
»Na, erleuchtet?«, begrüßte er sie.
»Servus, Chef, aber immer doch. Und selber?«
»Immerhin gesättigt, fürs Erste.«
»Und, was gab’s?«
»Leberkäs. Und zum Nachtisch Crème bavaroise, vulgo Bayerische Creme.«
»Klingt gut, was immer das sein mag.«
»Ein klassisches Dessert, nach deinem Verständnis eine Art Pudding, den wir im Norden als Englische Creme zu be zeichnen belieben. Aber natürlich haben in Wahrheit die Bay ern das Rezept erfunden, Dreizehnhundert-grauen-Zwirn, wenn ich nicht irre. Alle Kultur stammt bekanntlich aus Bayern.«
»Ui, das nenne ich gründliche Recherche, Chef.«
»Ab und zu empfiehlt es sich, mit der Bedienung ins Gespräch zu kommen.«
»Schönes Dirndl?«
Wolf Gabriel sah den beeindruckenden Busen wieder vor sich. »Ja, kann man so sagen. Ich nehme an, sie hat was in der Villa Undine laufen. Recht interessant. Und was gab es bei euch?«
»Veganes Gulasch ungarische Art.«
»Öfter mal was Neues. Und, hat’s gemundet?«
»Für Mutter und dich wäre es nichts gewesen.«
»Und sonst? Noch was Neues?«
»Das kicherige junge Mädchen ist verschwunden, wobei ich anmerken möchte, dass die Frau ein Jahr älter ist als ich. Zenzi Schmidhuber hieß sie, vielmehr heißt sie hoffentlich noch.«
»Verschwunden? Wie, verschwunden?«
»Hat sich offenbar abgesetzt.« Sandra richtete sich auf und langte nach der Cola-Flasche. Sie klemmte sich das Mobiltelefon zwischen Schulter und Ohr und sprach weiter, während sie den Verschluss aufschraubte. »Gab eine Mordsaufregung beim Abendbrot deswegen. Sie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie sich bei Goschi für alles bedankt hat, und dann hat sie stiekum die Flucht ergriffen. Keiner weiß, wo sie hin ist.«
»Meinst du, das stimmt auch? Ist sie freiwillig gegangen?«
Sandra zuckte mit den Achseln, was zur Folge hatte, dass das Telefon auf den Boden fiel. Es gelang ihr, ein Fluchen zu unterdrücken, aber dann hielt sie die Flasche beim Versuch, das Handy aufzuheben, leider so ungünstig schräg, dass die Cola auf die Bettdecke tropfte. »Ja, Sacklzement! Das ist doch …«
»Hallo, Sandra, alles in Ordnung?«
»Wie bitte, was? Aber klar doch, Chef.«
»Ja, ist schon gut, du bist ja meine Schöne.«
Sandra wollte sich gerade wundern, als sie begriff, dass Wolf Gabriel
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