Mordsberge: Vier Fälle für Kommissar Gabriel (German Edition)
Gabriel –, der sich nachts vielleicht noch im Zimmer des Ermordeten zu schaffen machen wollte. Und vielleicht hatte er beim Packen ja doch etwas übersehen?
Und dann diese Rückführung, die für morgen früh geplant war. Es war Ehrensache, dass er seine junge Mitarbeiterin dabei nicht allein lassen konnte. Sie war seine Schutzbefohlene, er würde ihr vorausgehen müssen. Zumal ihr Fuß nicht belastbar war. Sie würde hinterdreinhumpeln oder auch, auf seinen Arm gestützt, an seiner Seite.
»Nicht wahr, Mutter, wir lassen unsere Sandra nicht allein?«
Zum Zeichen der Zustimmung gab der Hund ein kurzes Bellen von sich.
Gabriel schmiegte sich gemütlich in die Kissen, wobei er die rechte Hand lose von der Bettkante herabhängen ließ und mit den Fingern, solange er noch dazu in der Lage war, Mutters weichen Nacken kraulte. Mit geschlossenen Augen sah er die Berge im rosigen Alpenglühen, im Mund spürte er wieder die weiche Konsistenz der Bayerischen Creme, die bezeichnenderweise nicht blau-weiß in den Landesfarben serviert wurde, sondern mit Himbeeren und Walderdbeeren rot-weiß abgerundet war. Rot-weiß, wie das St. George’s Cross, dachte Gabriel. Also doch: Englische Creme! Und dann stand sie plötzlich vor ihm an seinem Bett, und er hätte sie beinahe nicht erkannt in ihrem rot-weiß geblümten Dirndl mit dem weichen, weißen Ausschnitt. Da stand sie und war seine Mutter und wehte ihn mit einem Atem an, der verriet, dass man sich da, wo sie jetzt war, nicht mehr die Zähne putzte.
»Was liegst du hier herum, Junge, denkst über Kochrezepte nach und vergeudest die Zeit? Los, du hast eine Aufgabe, und die lautet bestimmt nicht, von Bayerischer Creme zu träumen.«
Sie schenkte ihm das Lächeln eines Menschen, der vorbehaltlos liebte und sich nicht darum scherte, ob er einen angenehmen Eindruck erzeugte oder nicht. Mein Gott, er hatte gar nicht gewusst, dass seine Mutter dermaßen faule Zähne gehabt hatte. Morsch und gleichzeitig spitz sahen sie aus wie die Zähne von Meta, Mutters Vorgängerin. Wie hatte das Tier in seinen späten Jahren aus dem Mund gestunken! Damals hatte er noch mit Anne und den Kindern zu sammengelebt, und Anne hatte sich geweigert, mit dem Hund Gassi zu gehen. Am Schluss hatte sie die Hündin nicht einmal mehr im Haus geduldet, und er hatte eine Hospizhundehütte im Garten gebaut. Vielleicht war das der eigentliche Grund für das Scheitern seiner Ehe gewesen?
»Hör auf, hier herumzuspinnen«, herrschte die Erscheinung in ihrem jetzt nur mehr verblichen-weiß geblümten Dirndl ihn an. »Es geht hier nicht um Meta.« Sie bleckte furchterregend die Zähne, sodass Gabriel seinen Blick abwandte und an ihrem Dekolleté hängen blieb. Er musste zugeben, dass er dieser Körperregion seiner Mutter zu ihren Lebzeiten keine große Aufmerksamkeit gewidmet hatte, außer wahrscheinlich als Baby, aber daran konnte er sich natürlich nicht mehr erinnern. Nun aber kam er nicht umhin zu bemerken, dass sie eine erstaunliche Oberweite besaß, die noch zudem dadurch betont wurde, dass oberhalb ihres Ausschnitts ein Namensschildchen befestigt war. »Mutter« stand in schnörkeligen Buchstaben darauf.
»Na los, worauf wartest du noch?«, blaffte sie. Und dann sagte sie einen Satz, den Gabriel oft von ihr gehört hatte: »Dein Typ wird verlangt.« Meist hatte sie ihm bei diesen Worten den Telefonhörer gereicht und amüsiert gelächelt, weil eine seiner zahlreichen Verehrerinnen ihn sprechen wollte. Was für eine Mühe hatten sich die Mädchen in seiner Jugend gegeben, ihn aus der Reserve zu locken! Nur Anne nicht, und genau das hatte ihn für sie eingenommen.
»Vergiss die Waffe nicht«, sagte seine Mutter. »Ich bin in Gefahr.« Ihre Stimme überschlug sich und wurde von ihrem eigenen Echo überlagert. »… in Gefahr … in Gefahr … in Gefahr … Und denk daran … denke daran … Meine Warnungen hatten immer Hand und Fuß … und Fußfußfuß … Wenn du mir nicht zuhörst, werde ich nie wieder kommen … nie wieder … nie wieder …«
Ihre Erscheinung begann, sich vor seinen Augen aufzulösen, sie wurde immer blasser, die Konturen verschwammen, bis schließlich nur noch ein heller Umriss übrig blieb, der an einen großen Hund denken ließ.
»Mutter!«, rief Gabriel. Die Hündin, die es sich inzwischen zu Gabriels Füßen im Bett bequem gemacht hatte, gab ein Knurren von sich. Mit einem Schlag war Gabriel hellwach. Was hatte die … Erscheinung gesagt: »Ich bin in Gefahr«? Aber wieso sollte
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