Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
lackierte Holz. In einem hatte Kolja Bosenkow sich geirrt: Wegen des Umfangs der aufgedunsenen Leiche hatte man einen Erwachsenensarg gebraucht. Dein dumpfen Geräusch von Erde auf Holz folgte jedes Mal eine Gabe Weihwasser, welches Pfarrer Radlspeck von der St.-Michaels-Kirche mit einer kleinen Bürste versprengte und dabei immer dieselben lateinischen Worte leierte. In einer endlosen Parade rückte die Menge langsam vor, auf das offene Grab zu, um Doris und Jürgen die Hand zu drücken. Augen schwammen in Tränen, Nasen röteten sich, klamme Finger suchten nach Taschentüchern, ab und zu hörte man kräftiges Schneuzen.
Paula beteiligte sich nicht am sogenannten Leichenschmaus. Schon das Wort genügte ihr. Auf die Gefahr hin, Doris und Jürgen zu brüskieren, ging sie mit Simon nach Hause. Nach dem Besuch bei Lilli hatte sie einen Entschluß gefaßt: Sie würde den Umgang Simons mit Doris wieder auf ein vernünftiges Maß beschränken. Seit es den Hund gab, im übrigen ein reizender kleiner weißer Bär mit schwarzen Knopfaugen, aus dem einmal ein Golden Retriever werden sollte, war Simon kaum noch zu Hause. Paula hoffte zwar, daß die erste Begeisterung nachlassen würde, wenn aus dem knuddeligen Hundebaby ein erwachsener Hund geworden war, aber so lange wollte sie nicht warten. Sie fühlte sich nicht mehr wohl, wenn sie Simon bei Doris wußte. Es hing nicht mit Max’ Tod oder Jäckles Mordverdächtigungen zusammen, es war etwas anderes, Paula konnte es nicht konkret benennen. Etwas Ungesundes, Unnatürliches lag wie eine Wolke über Doris’ Beziehung zu Simon.
Ende Januar sollte Weigand wieder einigermaßen auf dem Posten sein, dann würde sie die ganztägige Arbeitszeitregelung rückgängig machen, die sie für die Dauer seiner Vertretung getroffen hatte. Bis dahin wollte sie sich wenigstens an den Wochenenden ausgiebig Simon widmen, notfalls mit ihm wegfahren, irgendwohin, nur weg.
Eine Woche nach der Beerdigung unternahm Paula den ersten Schritt. Als sie den widerstrebenden Simon am späten Nachmittag bei Doris abholte, eröffnete sie ihr nach außen hin ruhig und bestimmt, sie werde ihn von nun an morgens wieder selbst in den Kindergarten bringen. In den letzten Wochen war Doris schon immer eine knappe halbe Stunde vorher, praktisch zum Frühstück, erschienen, kaum daß sie und Simon im Bad fertig waren. Paula hegte den Verdacht, Doris lauere gegenüber am Fenster darauf, daß in ihrem Bad das Licht aus- und in der Küche anging, um mit einer Tüte frischer Semmeln herüberzueilen, welche sie vom Morgenspaziergang mit Klein-Anton mitbrachte.
Doris akzeptierte die Mitteilung ohne Widerspruch. Sie verlangte nicht einmal eine Erklärung.
»Ist in Ordnung, ganz wie du meinst«, sagte sie mit einem wäßrigen Lächeln. »Übrigens, übermorgen ist Theatersitzung, um acht. Barbara hat mich angerufen, ich soll’s dir sagen. Vorschläge fürs neue Stück, Besetzungsmöglichkeiten und so weiter. Du spielst doch wieder mit, oder?«
»Ich weiß nicht recht. Ich möchte Simon nicht so oft alleine lassen. Wenn überhaupt, dann nur was ganz Kleines.«
»Ich kann doch auf ihn aufpassen.« Natürlich, dachte Paula, das würde dir so passen.
»Warum spielst du nicht mal eine größere Rolle?« fragte Paula. »Es würde dich ein bißchen ablenken.«
»Vielleicht«, meinte Doris ausweichend, »wenn uns die Generalin überhaupt läßt.«
»Wird Zeit, daß sie mal Konkurrenz kriegt. Los, Simon, sag Anton gute Nacht, wir gehen jetzt.« Unter viel Trara verabschiedete sich Simon von seinem Hund. »Also, dann bis …«, Paula hielt verlegen inne, denn beinahe hätte sie »morgen früh« gesagt, »…bis morgen nachmittag.«
Paula gelang es, Katharina für den Abend der Theatersitzung als Babysitterin zu verpflichten, und als sie eben am Hinausgehen war, klingelte das Telefon. Es war Doris. »Bist du fertig?«
»Ja, sofort.«
»Ist Katharina schon das«
»Ja, sie ist da.«
Paula warnte Katharina augenzwinkernd vor der Verderbtheit des Privatfernsehens und gab Simon einen Gutenachtkuß. Vor dem Spiegel in der Diele trug sie noch rasch Lippenstift auf. Sie fand, daß sie heute recht passabel aussah. Daß sie überhaupt noch recht passabel aussah. Zwar nicht mehr jugendlich, aber auch noch nicht verbraucht. Gut abgelagert, wie die Bordeauxweine in ihrem Keller. Selbstbewußt lächelte sie sich zu. Sie freute sich auf die neue Theatersaison, hatte insgeheim beschlossen, trotz des zusätzlichen Zeitaufwands
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