Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
damit. Sein ungutes Gefühl, sobald er mit dieser Frau zu tun hatte, ja allein, wenn er an sie dachte, verfestigte sich zusehends. Sie hat etwas damit zu tun, das war seine feste Überzeugung, die durch Doris’ neuerdings provokantes, selbstsicheres Auftreten und die zahlreichen Tricks und Beschwerden ihres Anwalts nur noch bestärkt wurde. Wenn sie es nicht selber war, so war sie zumindest darin verwickelt.
Die Haaranalyse ergab rein gar nichts.
Auch in Paulas Leben geschah wenig Erfreuliches. Ihre Waldspaziergänge blieben einsam und hinterließen ein Gefühl von Kälte und Leere.
Das Schlimmste jedoch war der Brief, der irgendwann in diesen Januartagen eintraf. Paula sah ihm sofort an, daß er nichts Gutes enthalten konnte. Der Absender war eine Anwaltskanzlei, den Inhalt mußte sie dreimal lesen, um ihn restlos zu verstehen.
Ihr geschiedener Mann, Klaus Matt, klagte erneut das Sorgerecht für Simon ein. Eine Begründung stand nicht dabei. Die Verhandlung vor dem Familienrichter sollte im Mai stattfinden. Falls Paula bis dahin ihre Fürsorgepflicht in irgendeiner Weise verletzen sollte, würde Simon umgehend in einem Heim oder bei Pflegeeltern untergebracht werden. Eine Stellungnahme vom Jugendamt lag bei, lauter Übertreibungen und Lügen, die schwer zu entkräften sein würden, da sie, wie jede gute Lüge, einen Kern Wahrheit enthielten. Das Pamphlet war unterzeichnet von Isolde Schönhaar.
Die Schönhaar! Wie hatte ich nur glauben können, daß sie nach der letzten Begegnung, die für sie so demütigend geendet hatte, Ruhe geben würde?
Paula war plötzlich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Im ersten Zorn wollte sie ans Telefon stürzen und Klaus zur Rede stellen. Aber dann rief sie sich zur Besonnenheit. Bis Mai war noch viel Zeit. Sie mußte vorsichtig sein, sich zu keinen unüberlegten Handlungen und Äußerungen hinreißen lassen. Klaus wäre imstande, alles vor Gericht gegen sie zu verwenden. Sie rief ihre Anwältin an. Frau Klimt-Schmehlin konnte Paula wieder einigermaßen beruhigen. Sie habe nichts zu befürchten, ihr Mann die deutlich schlechteren Karten. Allerdings müsse sie sich mit dem Jugendamt gut stellen. »Laden Sie die Frau zum Kaffee ein«, riet sie Paula, »sagen Sie zu allem, was sie vorschlägt, ja und amen. Und lassen Sie sich in nächster Zeit nichts zuschulden kommen, was Ihre Qualifikation als Mutter irgendwie in Frage stellen könnte.«
Mitte Januar wurde Max beerdigt. Die ganze Siedlung war während der Trauerfeier und der anschließenden Beisetzung versammelt. Paula lauschte den Worten des Pfarrers, ohne ihren Inhalt wahrzunehmen. Unauffällig studierte sie die Gesichter um sich herum, die alle bedrückt und doch in gewisser Weise teilnahmslos dreinblickten. Es fehlte der echte Schmerz hinter ihren starren Mienen. Erst als der Kinderchor – Doris hatte sich nicht überreden lassen, auf diese Grausamkeit zu verzichten – ein Kirchenlied anstimmte, wurden vereinzelte Schluchzer laut.
Fast alle Frauen hatten frische Dauerwellen, noch von Weihnachten her. Annemarie Brettschneider bekreuzigte sich des öfteren und schien ihre eigenen Beschwörungsformeln in ihren Kaninchenpelzkragen hineinzumurmeln, jedenfalls bewegten sich ab und zu ihre Lippen. Ilona Seibts Gesicht war tüllverhangen unter einem – gemessen am Anlaß – viel zu mondänen Schleierhut, den sie unmöglich in Maria Bronn gekauft haben konnte. Der Grund für die Vermummung war weniger ein von Trauer gezeichnetes Gesicht als vielmehr ihr blaues Auge, das die Handschrift ihres Gatten trug. Dabei hatte sie ihn nur gefragt, wo denn der Benzinkanister hingekommen sei, der sonst immer im Kofferraum seines Mercedes gelegen hatte.
Simon und die anderen Kinder der Siedlung verhielten sich still, waches Interesse im Blick, als verfolgten sie eine Theatervorstellung oder ein spannendes Fernsehprogramm.
Am Grab hielt sich Paula im Hintergrund, sie fand die Zeremonie gleichermaßen abstoßend und faszinierend: schalenweise Blumen, Kränze mit Bändern, die in goldenen Lettern von Liebe sprachen und auf die jetzt, in dem beklemmenden Moment, als der blütenweiße Sarg von den städtischen Angestellten in das mit grünem Tuch ausgeschlagene Loch versenkt wurde, ein Graupelschauer niederrieselte. Der Chor begann erneut zu singen:
Daß er ganz ein Engel werde
leg den Knaben nun zur Ruh
deckt ihn nicht mit schwerer Erde
deckt ihn ganz mit Blumen zu.
Blumen, Erde und Schnee bedeckten nach und nach das
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