Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
mitzumachen. ›Ich wußte es doch immer: Theater macht süchtig‹, hätte Lilli bestimmt dazu gesagt. Eine kleine Rolle nur. Es würde auch sie, Paula, ein wenig von ihren Problemen ablenken.
Während sie zu Doris hinüberging, hatte sie das Gefühl, die Talsohle der letzten Wochen durchschritten zu haben. Ihre Anwältin hatte ihr heute die Kopie eines Schreibens geschickt, in dem sie Klaus und seinen Anwalt gehörig in die Schranken wies. Es wird alles wieder in Ordnung kommen, dachte Paula zuversichtlich, mit Simon, mit Doris und mit mir selber. Sogar Jäckle hielt momentan still, er hatte sie nicht weiter mit Fragen bedrängt, und daß Kolja Bosenkow seit dem Brand spurlos verschwunden zu sein schien, hatte neben einem leisen, wehmütigen Nachgeschmack sicher auch sein Gutes. Irgendwo tief im Innern hatte Paula von Anfang an gewußt, daß dieses Erlebnis mit ihm einmalig war und es auch bleiben würde.
»Schick siehst du aus«, sagte Doris beim Einsteigen. Paula hatte angeboten zu fahren.
»War beim Friseur.«
»Nein, überhaupt. Du solltest öfter ein Kleid anziehen.«
»Danke.« Paula lächelte und deklamierte: »Sie tauschten noch ein paar letzte Höflichkeiten, ehe sie sich im erbarmungslosen Kampf um die Hauptrolle an die Kehlen sprangen und sich die frisch gefönten Haare vom Kopfe rissen.
Doris’ Gesicht erhellte sich spürbar, sie griff den lockeren Ton auf.«.Es ist schon ein Unding, mit was für Leuten wir freiwillig unsere Freizeit verbringen.«
»Einer alternden Möchtegern-Diva mit Toskana-Tick …«, begann Paula.
»… einem Egomanen, dessen Witze so abgeschmackt sind wie sein Bärtchen lächerlich«, fiel Doris ein, und zum ersten Mal seit langer Zeit lachten sie wieder zusammen.
»Eigentlich müßte mal ein Theaterstück über unsere Truppe geschrieben werden«, schlug Paula vor. »Besonders über die Premierenabende.«
Die Premieren. Die Premieren waren ein Schauspiel für sich. Die ganze Prominenz des Ortes strömte dann herbei. Wer zwei solcher Karten in seinem Briefkasten fand, von Barbara als Vorstandsmitglied persönlich unterzeichnet, der durfte sich ab sofort zur Kleinstadt-High-Society zählen. Barbara führte das ganze Jahr über ebenso akribisch wie gnadenlos ihre In- und Out-Liste, und manchem erschien ein solches Paar Karten erstrebenswerter als das Bundesverdienstkreuz am Band oder ein Ehrentribünenplatz beim örtlichen Fußballverein. Als Dank für die Freikarten bekam Barbara bei der Premierenfeier zahlreiche dicke Blumensträuße und noch dickere Schecks überreicht. Erstere wurden an die Mitglieder des Ensembles verteilt, letztere leitete Barbara umgehend an Hermann weiter, der dafür sorgte, daß die großherzigen Gaben bei der nächsten Steuererklärung die schwere Zahlungslast der Wohltäter milderten. So kam das private Amateurtheater auf diskrete Weise in den Genuß staatlicher Subventionen. Paula, mit ihrem gut entwickelten Sinn für Ironie, ergötzte sich jedes Mal aufs neue an dieser Prozedur. Was sie jedoch gelegentlich wurmte, war die Tatsache, daß niemand es wagte, ein Stück auf die Bühne zu bringen, das keine entsprechende Rolle für Barbara enthielt. Auch Stücke mit zwei ebenbürtigen weiblichen Hauptrollen hatten es schwer. In der Regel suchte Barbara das Stück aus, natürlich in »Absprache« mit dem Regisseur, der es dann zu Beginn der neuen Spielzeit als seine Idee verkaufte. In einer offiziellen Mitgliederversammlung wurde darüber abgestimmt. Es ging stets korrekt und demokratisch zu beim Bachgassen-Theater.
Paula parkte auf der Rückseite des Gebäudes, einem unbeleuchteten Hinterhof. Sie waren die letzten. Gudrun Grabitzke, seit Jahren Faktotum und Maskenbildnerin, stand hinter Barbara Ullrichs alter Kücheneinrichtung, die man zu einem improvisierten Tresen umgebaut hatte, und kochte Kaffee. Ihr Mann Erich verteilte die Tassen; er war ein eher mittelmäßiger Schauspieler, jedoch ein hervorragender Kassenwart, der die Finanzen des Vereins wie den Kronschatz hütete. Siggi Fuchs und er gerieten sich jedes Jahr wegen der Kosten für Kostüme und Bühnenausstattung in die Haare, weshalb Erich Grabitzke schon fast gar keine mehr hatte. Nebenan, in der verwinkelten und vollgepfropften Requisitenkammer, sahen sich Frank Mückel, ein unheimlich dicker Hals-Nasen-Ohren-Arzt, künstlerisch durchaus begabt, aber ohne große Ambitionen, und Gitta, eine Germanistikstudentin, die neue Videoausrüstung an. Um deren Anschaffung hatten Siggi und Erich
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