Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
Lilli würde diesbezüglich wieder weder Maß noch Ziel kennen. Sogar Klaus hatte ein Paket geschickt. Paula beschloß, es heimlich vorher zu öffnen und es Simon vorzuenthalten, falls sich irgendein billiger Schund darin verbergen sollte.
»Was machst du denn jetzt, die Tage?« Paula kostete es große Überwindung, Doris diese Frage zu stellen, aber die gab gelassen Auskunft: »Ich besuche meine Eltern. Und dann wollte ich mich auch mal mit Jürgen treffen.«
»Mit Jürgen?«
»Ja, warum nicht? Schließlich ist er mein Mann. Irgendwann wird er diese Phase sicher überwunden haben. Keine Midlife-Crisis dauert ewig, meinst du nicht?«
»Ja, sicher, schon möglich«, stammelte Paula. Phase! Bei Doris hatten die Menschen immer nur Phasen. Konnte sie nicht ein einziges Mal die Realität akzeptieren?
»Darf ich euch mal bei Lilli anrufen?«
»Natürlich«, nickte Paula widerstrebend.
Dann, endlich, saß sie mit Simon im Auto und fuhr, so schnell es vertretbar war, aus der Stadt hinaus. Sie drehte das Radio auf, und sie und Simon sangen aus Leibeskräften »Jingle-Bells«.
Als Lilli ihnen die Tür öffnete, mußte Paula dreimal hinsehen, ehe sie ihre Tante wiedererkannte.
»Lilli! Was ist mit deinen Haaren passiert?« Ihr bisher haselnußbraunes Haar, das sie seit Jahren regelmäßig und sorgfältig in ihrem Naturton nachfärbte, um auch die winzigste Spur von Grau sofort unsichtbar zu machen, dieses naturlockige, dichte Haar war weiß wie eine Sommerwolke.
Lilli fuhr sich verlegen über den Scheitel. »Flucht nach vorne, so nennt man das. Ich werde alt, mein Kind, also bekenne ich mich dazu. Alles andere wäre lächerlich. Aber nun kommt doch erst einmal rein. Gefällt’s dir nicht?«
›Es ist … gewöhnungsbedürftig«, sagte Paula wahrheitsgemäß. Sie konnte sich nur schwer von dem seltsamen Anblick lösen. Es waren nicht nur die Haare. Oder vielleicht doch. Die Konturen von Lillis Gesicht wirkten schärfer als sonst, die Falten um die Augen kamen ihr tiefer vor, ihre Augen stumpfer. Sie wird wirklich alt, dachte Paula betrübt. Sogar sie. Ich war fest überzeugt, Lilli würde ewig jung bleiben. Andererseits – betrachtete man Lillis Lebenswandel einmal nüchtern, war sie mit Sicherheit eine, die die Kerze an beiden Enden angezündet hatte.
»Was macht dein Fahrradkavalier?« fragte Paula beim Kaffee in Tante Lillis Wintergarten, hoch über den Dächern von Schwabing.
»Hat mich sitzenlassen.«
»Was?« Paula riß die Augen auf, dann lächelte sie. »Hast du dir deshalb die Haare nicht mehr braun färben lassen?«
»Aber nein«, gab Lilli entrüstet zurück. Paula glaubte ihr nicht.
»Immerhin bemerkenswert, daß dir das mit annähernd siebzig zum ersten Mal passiert«, lästerte sie.
»Mag sein«, sagte Lilli und machte eine ungeduldige Handbewegung, die zum Ausdruck brachte, wie lästig ihr diese Angelegenheit war, »vielleicht bin ich diesbezüglich ein Spätentwickler, aber das macht es nicht eben leichter. Sprechen wir nicht mehr davon, es ist nicht so wichtig.«
Paula hielt sich daran. Ansonsten schien Lilli unverändert.
Heiligabend war natürlich Simons Fest. Er schwelgte in Geschenken, besonders hatte es ihm das Piratenschiff angetan, das sein Vater ihm geschickt hatte. Simon wußte mit dem Begriff »dein Vater« nicht viel anzufangen, außer daß zu Weihnachten und zum Geburtstag ein Paket kam. Bis jetzt schien ihm das zu genügen.
Im nachhinein blieben Paula von ihrem Weihnachtsbesuch vor allem zwei Ereignisse im Gedächtnis haften: Das eine war die Begegnung mit einer reichlich aufgetakelten Frau, die am zweiten Feiertag in einem italienischen Restaurant stattfand.
»Frau Nickel?« sprach die Dame Paula auf dem Weg zu den Toiletten an. Paula blieb zögernd stehen. Dann erkannte sie sie. Es war die Vorbesitzerin von Doris’ Haus. Paula und Klaus hatten nur ein Vierteljahr neben ihr gewohnt, ehe sie das Haus an die Körners verkaufte und nach Kalifornien zog.
»Guten Abend, Frau …«
»Gutsch«, lächelte die Frau nachsichtig. »Ingrid Gutsch. Wie geht es Ihnen?« Ohne Paulas Antwort abzuwarten, schnatterte sie drauflos: »Mein Mann und ich sind für zwei Wochen hierher geflohen, zu meiner Schwester. Weihnachten ist da drüben so laut und kitschig, das hält man fast nicht aus.« Es folgte ein längerer Exkurs über Weihnachtsbräuche in Kalifornien, dem Paula eher desinteressiert lauschte, während sie den vorbeieilenden Kellnern im Weg standen, bis die Gutsch auf einmal
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