Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
gerade dabei, sich eine bessere Mutter auszusuchen, so wie ich mir damals Lilli ausgesucht habe. Oder umgekehrt. Sie geriet in Panik bei diesem Gedanken. Hastig stand sie auf und ging zur Kaffeemaschine, nicht, weil sie scharf auf die lauwarme Brühe war, sondern um sich Bewegung zu verschaffen. Mit der unberührten Tasse in der Hand stand sie wenig später an ihrem Bürofenster und sah gedankenverloren hinaus auf den Marktplatz. Um die buntbeschirmten Stände drängelten sich vorwiegend Frauen, sie schleppten schwere Körbe mit sich herum, beruhigten quengelnde Kinder, manövrierten Kinderwägen durchs Gedränge. Die wenigen Männer waren Rentner oder Büroangestellte in Anzügen, die während ihrer Kaffeepause bummeln gingen. Sie hatten nichts zu schleppen, und niemand zupfte fordernd an ihren Ärmeln. Es schien warm zu sein, föhnig wahrscheinlich, die meisten Leute jedenfalls hatten ihre Jacken ausgezogen. Ihr Blick wanderte hinüber zu dem alten Gebäude auf der anderen Seite. Wenn da drüben nicht dieser riesige Kastanienbaum wäre, sie und die Schönhaar könnten einander glatt über den Marktplatz zuwinken. Eine abstruse Vorstellung. Paula konnte sich die sauertöpfische Schönhaar überhaupt nicht winkend vorstellen. Auch nicht lächelnd.
Sogar der Eisstand hatte zum ersten Mal in diesem Jahr wieder geöffnet. Eine Schlänge wartete davor. Plötzlich war Paula wie elektrisiert. Der Mann da unten – da stand Vito! Er wandte ihr den Rücken zu, aber das war er, unverkennbar: seine Haltung, sein Haar, jetzt diese Handbewegung, mit der er seine Dauerwellen in Unordnung brachte. Sie rang nach Luft, sie mußte blinzeln, dann starrte sie erneut auf die Schlange vor dem Eisstand.
Unsinn! Da war kein Vito. Nicht einmal ein Mann, der ihm ähnlich sah. Weit und breit nicht. Paula stellte die Tasse weg, atmete tief ein und preßte ihre schweißnassen Hände gegen die Schläfen. Das kann nicht sein, dachte sie, aber ich hätte schwören können, daß er’s war. Ich werde langsam meschugge, das ist es. Ich sehe Tote herumlaufen.
»Frau Nickel!«
Paula fuhr wie mit einer Nadel gestochen zusammen. »Sie haben schon wieder vergessen, einen Strich auf der Kaffeeliste zu machen, und die Kanne haben Sie auch nicht zurückgestellt, denken Sie, wir anderen wollen ihn lieber kalt trinken?«
Paula hätte Vera am liebsten umarmt. Sie war so normal. So beruhigend lebendig und real.
»Tut mir leid. Ich koche uns neuen.«
Vera vernahm diese Worte und plumpste vor Schreck auf ihren Stuhl. »Jetzt«, flüsterte sie, »ist sie übergeschnappt.«
»Prima«, sagte Siggi Fuchs am Ende der Probe. »Die Szene können wir so lassen. Diese Woche noch den Schluß, mit dem ganzen Haufen, ab dann nur noch Durchläufe. Wird das gehen, Paula?«
»Wieso sollte es nicht?«
»Ich meine nur. Wir werden dann auch Doris hier brauchen. Sie macht doch Babysitter bei deinem Sohn, oder nicht?«
»Nicht immer. Ich habe noch jemanden in Reserve.« Die ›Reserve‹ saß heute bei Simon. Paula hatte in einem Anfall von Aufsässigkeit über Doris’ Kopf hinweg eine Freundin von Katharina engagiert. Katharina hatte ihr das Mädchen vermittelt, ehe sie mit einem Schüleraustauschprogramm nach Frankreich abgereist war, wobei Paula das Gefühl nicht loswurde, daß Doris dahintersteckte.
Jedenfalls mußte sie sich Vorhaltungen von Doris anhören: »Du bist so leichtsinnig! Frau Aschenbach kennt diese Manuela. sie hat mir erzählt, als sie einmal nach Hause kam, da hat dieses dumme Ding tief und fest geschlafen! Ihrer Tochter hätte schon wer weiß was passiert sein können.«
»Ich werde ihr vorher einen doppelten Espresso einflößen.«
»Blödsinn. Sie ist einfach nicht zuverlässig. Und was ist in der Zeit, in der du sie nach Hause fahren mußt?«
»Das sind nur fünf Minuten. So lange kann Simon schon mal alleine bleiben.« Paula wich keinen Zentimeter von ihrem Standpunkt. ›Wehr dich‹, hatte Lilli zu ihr gesagt.
Doris machte sich beleidigt auf den Heimweg, als Manuela kam, doch im Flur zischte sie Paula ins Ohr: »Mit Freunden sollte man es nicht gerade dann verderben, wenn man sie am dringendsten braucht.«
Paula sah sich um, ob Manuela außer Hörweite war, dann sagte sie so ruhig wie möglich: »Wenn du auf diese Sache mit Vito anspielst …«
»Das meine ich nicht«, fiel ihr Doris hastig ins Wort, »das kommt noch dazu. Ich rede davon, daß ich heute eine Vorladung von Klaus’ Rechtsanwalt bekommen habe. Ich soll als Zeugin über
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