Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
ihrem ersten Glas hing. Sie trank fast täglich Wein, achtete aber streng auf die Menge. Meistens.
»Zunächst …« Plop! Lilli unterbrach sich, zelebrierte das Ritual des Einschenkens und schwenkte das bauchige Glas im Schein des Kaminfeuers. Dem Wein schien in diesem Moment ihre ganze Aufmerksamkeit zu gehören. »Ah, dieser feine Duft nach Cassis! Zunächst mal werden wir uns um Frau Schönhaar und deinen Exgatten Klaus kümmern müssen. Hast du schon mit ihm gesprochen?«
»Nein. Einmal wollte ich, aber er ließ sich am Telefon verleugnen. Außerdem hat mir die Anwältin abgeraten. Sie fürchtet, ich könnte ausrasten und alles nur noch schlimmer machen.« Paula lächelte schief. »Sie kennt mich anscheinend noch ganz gut, vom letzten Mal. Aber ich kenne Klaus. Er wird die Klage nicht zurückziehen, und wenn ich auf Knien vor ihm rutsche.«
»Das wirst du schön bleiben lassen«, sagte Lilli streng. Dann vollführte sie eine theatralische Handbewegung: »Mein Gott, daß manche Männer aber auch ums Verrecken keine Niederlage akzeptieren können! Ich wette, er tut das alles nur, um dich zu demütigen. Wahrscheinlich würde er erschrecken, wenn er den Prozeß gewinnt.« Sie seufzte und sah ihre Nichte an. »Leicht hast du es nicht gerade.«
Paula zuckte hilflos mit den Schultern. Was hatte sie erwartet? Daß Lilli eine Zauberformel zur Lösung all ihrer Probleme parat hatte, die sie nur noch auszusprechen brauchte?
»Diese Geschichte mit diesem … diesem …«
»Vito.«
»Ich würde mich an deiner Stelle nicht von Doris unter Druck setzen lassen. Zu einem Mord, oder was auch immer, gehört eine Leiche. Wo ist die? Hat sie ihn daheim in der Tiefkühltruhe, wo sie ihn dem Jäckle bei Bedarf servieren kann?«
Paula stellte sich das bildlich vor und mußte beinahe lachen. Auf einmal hatte sie Anton vor Augen, wie er diese großen Knochen zermalmte, bis nichts mehr davon übrig war, Doris, wie sie am Herd stand … Paula! Das geht entschieden zu weit!
Lilli fuhr fort: »Solange man seine Leiche nicht findet, kann sie der Polizei erzählen, was sie will. Mach ihr das deutlich. Wehr dich, Paula! Dir ist doch klar, was sie vorhat?«
»N… nicht so ganz. Sie sieht Simon bereits mehr als ich. Das muß ihr doch genügen, oder?«
»Das wird es nicht. Denkst du etwa, sie wird einfach so zusehen, wie du mit Simon wegziehst?« Lilli schüttelte den Kopf. »Nein, Paula. Diese Frau ist fanatisch. Genauso wie die andere, diese Schönhaar, was für ein dröges Geschöpf. Zwei Besessene, jede auf ihre Weise. Es war nicht sehr klug von dir, dich neulich so zu vergessen.«
Paula stützte nur müde den Kopf in die Hände.
»Jaja, Kind, ich weiß. Dein Temperament. Mir ging es ja ähnlich. Leute ihres Schlages fordern einen einfach zu sehr heraus.«
»Was ist, wenn Klaus Simon bekommt?«
»Wann, sagtest du, ist der Prozeß?«
»Anfang Mai. Drei Tage nach unserer Premiere«, Paula schnaubte durch die Nase, »diese Scheißrolle. Doris hat sie mir aufgenötigt, damit sie drei Abende in der Woche hier bei Simon sitzen kann. Ach, Lilli, ich weiß nicht, wie das alles so weit kommen konnte. Ich hätte gleich die Polizei holen sollen, als Vito …«
»›Hätte‹ nützt uns jetzt nichts mehr«, unterbrach Lilli. Unvermittelt stand sie auf, ging auf das Regal zu und nahm ein Buch heraus, dessen Rücken nicht ganz mit den anderen abgeschlossen hatte. Es war die Schachnovelle. Lilli nahm den schmalen Band heraus, ließ die Blätter durch ihre Finger gleiten wie einen Stapel Spielkarten und stellte ihn ordentlich zurück zu den anderen. Als sie sich umwandte, ließ ein breites Lächeln ihr Gesicht auf angenehme Weise runzlig werden, und Paula schöpfte Zuversicht. Hatte sie eben die Zauberformel nachgeschlagen? Sorgfältig legte Lilli ein Scheit Holz ins Kaminfeuer, und Paula wartete geduldig, bis sie ihre Gedankengänge ausbreitete.
»Doris ist in Simon vernarrt, daran besteht kein Zweifel. Also muß sie die Schönhaar genauso fürchten wie du. Vielleicht haben wir ihr das noch nicht deutlich genug klargemacht
Paula blickte ihre Tante an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Es mochte an dem wuchtigen Sessel liegen, aber sie kam ihr heute viel kleiner vor als früher. Da der Sessel nicht gewachsen sein konnte, mußte es wohl so sein: Lilli wurde langsam kleiner. Ansonsten wirkte sie wie eine sehr gepflegte, weißhaarige alte Dame, die vor dem Kaminfeuer saß und milde in ihr Weinglas lächelte.
»Weißt du, Tante Lilli«,
Weitere Kostenlose Bücher