Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
abzuschließen, und Max war seit Stunden im Garten unterwegs, wo sie, Paula, ihn darin später getroffen haben könnte. Paula bemerkte entsetzt, wie das eben noch so befreiende Gefühl erneut versickerte in einem Sumpf aus Ungewißheit und Angst.
Aber was, wenn Doris diese haarsträubende Geschichte nur erfunden hatte, um ihr Hiersein heute abend und in Zukunft zu rechtfertigen?
Paula schwirrte der Kopf wie ein Bienenstock. Sie hatte sich endlich Klarheit erhofft, aber nun war wieder alles offen, genau wie vorher. Nur daß sich Jäckles Forellentheorie bestätigt und auch Lilli mal wieder recht behalten hatte.
»Ich muß jetzt gehen«, drang Doris’ Stimme wie von weither zu ihr durch. Sie stand bereits. »Verstehst du jetzt, warum ich einfach so hier reingeplatzt bin? Ich hatte Angst um Simon.«
Paula blieb sitzen und nickte. »Ja«, sagte sie matt.
»Nacht, Paula.«
Paula hörte ihre Schritte im Flur, aber sie wartete vergeblich auf das Zuschlagen der Haustür. Statt dessen knarrte die Treppe.
Doris war noch einmal nach oben gegangen.
Langer Donnerstag
Wäre es nach Isolde Schönhaar gegangen, so hätte Simon Nickel sofort nach dem Vorfall mit diesem Sittenstrolch zu einer Pflegefamilie kommen sollen. Sie hatte die Familie bereits ausgesucht. Nette Leute, die über hundert Kilometer weit weg wohnten und schon öfter Kinder aus zerrütteten Verhältnissen vorübergehend bei sich aufgenommen hatten. Frau Schönhaar wußte jedoch, daß Simon am Wochenende noch für die Ermittlungen der Polizei zur Verfügung stehen mußte. Also plante sie ihre Aktion für Montag. Sie wollte ihn aus dem Kindergarten holen, das wäre am einfachsten.
Als sie dort am Montag, mit vor Erregung feuchten Händen und hochroten Wangen, vorfuhr, entdeckte sie, daß ihr ein wichtiges Detail entgangen war: Dieser Montag war Rosenmontag. Der Kindergarten hatte geschlossen. Sie schluckte ihre Enttäuschung tapfer hinunter, wie sie schon viele Enttäuschungen tapfer hinuntergeschluckt hatte, und überlegte statt dessen: Sollte sie das Kind doch von zu Hause abholen? Sich erneut mit einer hysterischen Paula Nickel herumstreiten oder womöglich gar ihrer Tante, diesem alten Drachen, begegnen? Sie entging einer weiteren Blamage lediglich dadurch, daß sie nach dieser Entdeckung erst einmal ihre Cousine Erna Schlich, die ganz in der Nähe wohnte, aufsuchte, um sich bei einer Tasse Kaffee über ihren nächsten Schritt klar zu werden. Erna entging im allgemeinen nichts, was sich in der Siedlung tat, und wenn doch, dann erfuhr sie es von Annemarie Brettschneider über den Gartenzaun. Auch diesmal war auf Erna Verlaß: »Der kleine Nickel? Der ist doch gestern mit seiner Tante weggefahren. Ich bin zufällig vorbeigekommen, nach der Kirche. Sie haben gerade jede Menge Taschen in den Wagen geladen. Ich bin dann ein bißchen langsamer gegangen, weil mich das interessiert hat, wo doch der Junge beinahe … Na, jedenfalls, so, wie die sich verabschiedet haben, war das nicht nur ein Tagesausflug. Das sah mir eher nach einem längeren Urlaub aus. Wenn du mich fragst, die fliegen sicher in die Karibik oder so wohin. Geld genug hat sie ja, die alte Schimmel. Mein Günther und ich, wir würden auch gerne mal wieder in Urlaub fahren, mit Herbert natürlich. Wir waren nicht mehr fort, seit wir das Haus gekauft haben. Dazu noch die teuren Musikstunden für Herbert … Glaubst du wirklich, er wird es im Herbst schaffen, auf die Musikakademie zu kommen?«
Obwohl Isolde Schönhaar und Erna Schlich sich sonst in langen Gesprächen über Herbert und sein Klavierspiel ergingen, fand die Unterhaltung an diesem Tag ein jähes Ende, denn Isolde Schönhaar raste innerlich vor Zorn. »Ich muß los. Immerhin bin ich im Dienst«, unterbrach sie die Mutter des Talents und fegte aus der blankpolierten Einbauküche hinaus, noch ehe der Kaffee durch die Maschine geblubbert war.
Zurück in ihrem Büro, beruhigte sie sich. Denn als sie die Akte Nickel zum wahrscheinlich hundertsten Mal durchblätterte, da stieß sie auf ein Datum: den 23. März. Simon Nickels Geburtstag. Ein Lächeln kräuselte ihre farblosen Lippen: Sicherlich würde er bis dahin wieder hier sein. Ein Fünfjähriger möchte so ein Fest doch zu Hause feiern, mit allen Freunden aus dem Kindergarten. Es würde ein unvergeßliches Fest werden, dafür würde Isolde Schönhaar ganz bestimmt sorgen.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb sieben, heute, am 23. März. Nur noch zwanzig Minuten. Nervös stand
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