Mordskind: Kriminalroman (German Edition)
sie auf, öffnete die Bürotür und spähte auf den Flur. Es wartete niemand mehr. Für heute war der unangenehme lange Donnerstag wohl so gut wie vorbei. Warum mußte Simon Nickel ausgerechnet an einem Donnerstag Geburtstag haben? Sie hatte sich diesen Nachmittag extra für ihr spezielles Vorhaben reserviert, aber dann, gegen Mittag, begann diese Zicke von einer Hilfskraft über den starken Föhn zu klagen, preßte stöhnend die rotlackierten Fingernägel gegen ihre Schläfen und meldete sich kurzerhand für den Rest des Tages krank: Migräne. So mußte Isolde Schönhaar, hin und her gerissen zwischen maßlosem Ärger und grimmiger Vorfreude, persönlich bis zum Dienstschluß hier ausharren. Hoffentlich war die Geburtstagsfeier bis dahin nicht schon vorbei. Warum, fragte sie sich, warum habe ich eigentlich immer Pech?
Tatsächlich waren die Glücksmomente in Isolde Schönhaars Leben dünn gesät gewesen. Ihr Vater war ein vom Ehrgeiz getriebener Mann, der es in vierzig Dienstjahren zu einer nicht sehr gut bezahlten Abteilungsleiterposition bei der Sparkasse geschafft hatte. Er war nirgends beliebt gewesen, nicht einmal bei seinen Vorgesetzten, trotz seiner bedingungslosen Loyalität. Das Familienleben der Schönhaars war geprägt von den Maximen Disziplin und Pflichterfüllung. Isolde war zehn, als ihre Mutter, eine übermäßig bescheidene, unattraktive Frau, an Kummer und Auszehrung starb. Die Ärzte nannten es Krebs.
Aus dem stillen Kind Isolde wurde ein reizloser Teenager, wobei sie nicht wirklich häßlich war. Irgendwann einmal war der Begriff »graue Maus« gefallen, und Isolde Schönhaar hatte ihn akzeptiert und verinnerlicht wie ein Gerichtsurteil. Sie kleidete und benahm sich dezent, sie wurde so unauffällig, man mußte sie schon mehrmals ganz bewußt ansehen, um sich endlich ihr Gesicht einprägen zu können. Daß sie in der Tanzstunde meist sitzenblieb und niemals von einem jungen Mann ins Kino eingeladen wurde, war keine böse Absicht – sie wurde einfach übersehen. Dafür machte sie allerdings nicht die jungen Männer verantwortlich, sondern die anderen Mädchen, die mit mehr Schönheit oder auch nur mit mehr Selbstbewußtsein ausgerüstet waren. Vielleicht wäre ihr Leben anders verlaufen, hätte ihr irgendwann irgendwer gesagt, daß sie begehrenswert sei. Aber selbst ihr Vater, um dessen Anerkennung sie seiner Lebtag buhlte, kam nie auf diesen Gedanken. Er hatte sein Leben lang keiner einzigen Frau ein Kompliment gemacht, wieso also gerade seiner plumpen Tochter. Isolde absolvierte fleißig, aber mit wenig Begeisterung eine Ausbildung als städtische Verwaltungsangestellte, und durch eine unbedachte Personalentscheidung geriet sie auf die Stelle im Jugendamt, was ihr Vater jedoch nicht mehr erlebte. Ganz auf sich gestellt mußte sie sich nun mit dem Mob herumschlagen oder, noch schlimmer, mit Xanthippen vom Kaliber einer Paula Nickel.
Aber heute war es soweit. Sie würde es ihnen allen heimzahlen, jetzt, sofort. Nicht, daß sie gar kein Gefühl für das Kind Simon Nickel gehabt hätte, aber sie konnte nicht anders. Seine Mutter und ihre Tante hatten sie gedemütigt, verjagt wie einen Hund, und das sollte ihnen noch leid tun. Irgendwer mußte solchen Menschen schließlich ihre Grenzen aufzeigen, sonst glaubten sie am Ende, man könnte mit ihr, Isolde Schönhaar, den Fußboden aufwischen.
Außerdem war da der Vater des Kindes. Ein sympathischer, verständnisvoller Mann, der sich ehrliche Sorgen um sein Kind machte. »Ich würde gerne einmal mit Ihnen zu Abend essen«, hatte er beim letzten Telefonat zu ihr gesagt. »Nach dem Prozeß natürlich. Wir dürfen uns vorerst keine Unkorrektheiten erlauben, aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erklären.«
»Natürlich nicht … ich meine … ja, sicher«, stotterte sie, froh, daß er ihre hochroten Wangen nicht bemerken konnte.
»Ich wußte. daß wir uns verstehen, Sie und ich«, setzte er hinzu, und dieses »Sie und ich« klang ihr noch tagelang in den Ohren wie eine leise, lockende Melodie.
Isolde Schönhaar wollte sich eben doch eine kleine Unkorrektheit erlauben und ihr Büro vorzeitig verlassen, da klopfte es. Noch ehe sie antworten konnte, trat eine Dame in ihr Büro und nickte ihr einen stummen Gruß zu.
»Guten Abend«, entgegnete Isolde Schönhaar säuerlich. Widerwillig bot sie dem ungebetenen Gast den tiefen Sessel gegenüber ihrem Schreibtisch an. Ihr eigener Bürostuhl war auf größtmögliche Höhe hinaufgeschraubt, obwohl sie
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