Mordsmöwen
schließlich und würde nicht so die Augen aufreißen, wenn man auf ihn zufliegt. Vielleicht hätte ich Baron Silver de Luft aber lieber vor der Glasscheibe warnen sollen.
Die Aktion bringt ihm ’ne mächtige Gehirnerschütterung ein, Knuts Doppelgänger eine kaputte Scheibe und uns gar nix. Mensch-Knut bleibt verschwunden. Entführt, ermordet, ertrunken?
Mit dieser Frage setzen wir uns auf das Dach des geschlossenen Crêpes-Standes und schauen auf das Meer, wo ein blaues Segelboot mit weißem Streifen in den Sonnenuntergang fährt.
ZWEI
Am nächsten Morgen sitze ich wie immer mit Blick auf den Leuchtturm auf dem Dach des Crêpes-Standes und schaue übers Meer der aufgehenden Sonne zu.
»Das wird ein Scheißtag!«, rufe ich meiner Bande zu, und meine Kumpels unten am Strand stellen augenblicklich ihre verzweifelten Versuche ein, die Schale einer angespülten Strandkrabbe zu knacken oder im seichten Wasser erfolglos nach Fischen zu tauchen. Wir versammeln uns auf dem Dach des geschlossenen Crêpes-Standes und schieben möwenmäßigen Hunger.
Stumpf brütend sitzen wir da. Auch unser Scheff hat die Augen geschlossen und den Schnabel ins Gefieder gesteckt, weil ihm der Schädel von der Begegnung mit der Glasscheibe brummt. Balthasar ist gestern bei Dunkelheit noch mal nach Westerland geflogen, um den Doppelgänger von Mensch-Knut darüber zu belehren, dass er ihn als Anwalt unseres Scheffs wegen fehlender – verdammt, wie heißen die Dinger eigentlich? – wegen fehlender »Schwarzer-Raubvogel-schreckt-andere-Vögel-ab-Aufkleber« auf Schmerzensheringe verklagen wird. Bis Mitternacht hat er den Mann angeschrien, so lange, bis der seinen Laden von den Glassplittern befreit und Material organisiert hatte, um die kaputte Scheibe notdürftig zu überkleben. Schmerzensheringe hat er aber keine rausgerückt, nicht mal eine Auster.
Dafür hat Balthasar erfahren, dass dieser Mann Sönke heißt und Knuts Bruder ist. Also hatten wir gleich richtig kombiniert. Balthasar hat erzählt, Sönke hätte etwas von einem Fluch vor sich hin gemurmelt, genauer, dass sein Bruder ihn verflucht hätte, und Sönke, so sagt Balthasar, sei so mit den Nerven runter gewesen, dass er beim Ausparken die Bremse mit dem Gaspedal verwechselt hat und derart auf einen Steinwall aufgesemmelt ist, dass er mit dem Taxi nach Hause fahren musste. Recht geschieht es ihm.
Nun läuft Balthasar schon den ganzen Morgen mit verschränkten Flügeln seine Runden um uns herum, dass ich ganz nervös werde.
Plötzlich bleibt er wie von einer Sturmböe gebremst stehen. »Wisst ihr was? Wir gründen eine Schoko.«
»Eine was?«, fragt Alki, der nicht mehr ungefragt einer Gruppe hinzugefügt werden will, seitdem er mal von einer Saisonpartnerin zu einem Gesprächskreis für Möwen mit Alkoholproblemen geschleppt wurde.
»Eine Schoko«, wiederholt Balthasar mit überheblicher Lehrermiene. »Das ist, was die Menschen machen, wenn sie einen Kriminalfall lösen müssen. Und was die können, können wir schon lange. Wir sind zudem um einiges schlauer. Wir haben den absoluten Überblick, können die Leute unauffällig belauschen und uns in die kleinsten Verstecke zwängen. Wir sind eine Bande von neun Möwen, also können wir uns über die ganze Insel verteilen. Wäre doch gelacht, wenn wir den Fall nicht lösen könnten – das sind wir unserem Mensch-Knut schuldig!«
Baron Silver de Luft nimmt seinen Schnabel aus dem Gefieder. »Sehr gut«, ruft er und hebt einen Flügel. »Hiermit gründen wir die Schoko-Crêpes!«
Kurz darauf beginnt unsere Arbeit mit einer groß angelegten Aufklärungsaktion: Suzette fliegt nach Kampen, Jonathan übernimmt den Ausflugshafen List, Harry schlägt sich durchs quirlige Westerland, Grey fliegt motzend nach Wenningstedt, Alki wird ins beschauliche Morsum geschickt, Helgi sucht das alte Kapitänsdorf Keitum ab, und Balthasar hört sich unter den Touristen in Rantum um, indem er sich ihnen in den Weg stellt und sie neugierig beäugt. Ich übernehme die Rundflüge und bringe die gesammelten Indizien und Beweise meiner Kumpels ins Basislager zum Crêpes-Stand nach Hörnum, wo unser Scheff seine Gehirnerschütterung auskuriert und sich mehr und mehr Federn ausrupft, weil es bis zum abschließenden Rapport am Abend immer noch keine vielversprechenden Spuren gibt.
Balthasar schaut über den Rand seiner Zeitung, die er auf dem Heimweg einem Menschen auf der Sonnenliege im Vorbeifliegen aus der Hand gerissen hat. »Ich sag’s doch,
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