Mordsmöwen
vor einem der Geschäfte auf dem Boden liegt: eine Sonnenbrille mit knallrotem Gestell! Okay, nicht Marke Stubenfliege, wie Suzette sie sich so sehnlich wünscht, aber es ist eine Sonnenbrille. Dieses kleine Modell, das offenbar ein Jungmensch hier verloren hat, ist an den Bügeln mit einem Gummiband ausgestattet, sodass die Brille Suzette sogar passen müsste. Ich checke kurz die Lage, dann schnappe ich mir das knallrote Gestell.
Wieder hoch oben in der Luft überkommt mich ein wahres Glücksgefühl. Jetzt kann ich Suzette ein Geschenk machen, etwas, was sie sich schon so lange wünscht. Das wird mir ihre Aufmerksamkeit sichern, und vielleicht vergisst sie Mogulis für einen Augenblick, sodass ich mit ihr reden und ihr meine Gefühle gestehen kann.
Aber erst mal muss ich Helgi finden. Ich setze mir die Sonnenbrille probehalber auf und watschle die verschlungenen, von Friesenwällen, Bäumen und Syltrosen gesäumten Gässchen entlang.
Whumm.
Verdammt! Das haben Sie gerade nicht gesehen, ja? Der Baumstamm, gegen den ich gesemmelt bin, war eben noch gar nicht da. Unpraktisches Ding, diese Sonnenbrille. Weibchen haben echt seltsame Wünsche.
Ich richte meinen umnachteten Blick in Bauerngärten rechts und links des Weges. Dabei krächze ich, mittlerweile heiser geworden, Helgis Namen.
Irgendwann bin ich am nordöstlichen Ortsrand angekommen und lasse mich erschöpft auf dem Kamin eines Reetdachhauses in vorderster Linie zum Watt nieder. Ich habe den Schnabel gestrichen voll. Von der Sonnenbrille und von meiner Truppe. Haben die wirklich nichts Besseres im Sinn, als sich in alle Winde zu zerstreuen?
Der Wind frischt auf. Ich lege die rote Sonnenbrille auf dem Dach ab und spähe zum östlichen Küstenbereich hinüber, der in sattem Farbspiel in der Sonne leuchtet. Das Morsum Kliff mit seinen verschiedenen Gesteinsschichten ist nicht zu verfehlen, aber außer einem von meinen Artgenossen bereits gut bewachten Kaffeegarten gibt es dort keine leckere Beute zu holen. Trotzdem habe ich damals mit meiner ersten Saisonpartnerin das Nest dort gebaut. Die Menschen dürfen sich am Morsum Kliff nämlich nur auf bestimmten Pfaden bewegen und müssen ihre Vierbeiner anleinen. Leider haben wir mitten in die Sahara gebaut. Ja, sie haben richtig gelesen. Auf Sylt, am Morsum Kliff, und trotzdem mitten in der Sahara. Wir hatten uns zuerst auch gewundert, warum da keine andere Möwe ein Nest baut, aber wir fanden es ganz schick, ein bisschen für uns zu sein. Bis es uns ziemlich warm unterm Flügel wurde und die älteren Vögel uns lachend erklärten, dass man in dieser Mulde im Sommer ganz schnell zum Grillhähnchen werden kann. Woher genau diese Hitzeentwicklung kommt, konnte mir Balthasar auch nicht erklären, und er ist sich sicher, dass es die Menschen ebenfalls nicht wissen – also Federn drüber, wir waren eben noch jung und unerfahren. Aber ganz ehrlich, das beschauliche Leben an einem Ort, an dem man das Gefühl hat, die Welt sei zu Ende, das war nichts für mich. Das Nahrungsangebot aus dem Watt war zwar für unsere Küken top, mir hingen die Wattwürmer jedoch bald zum Hals raus. Und damit begann meine kriminelle Karriere.
Ich mache mir Sorgen um Helgi. Hat es ihm nicht mehr bei uns gefallen, hat er die Gunst der Stunde genutzt, um sich von der Gruppe abzuseilen, oder ist ihm was passiert? Mir kommt die Idee, dass er vielleicht nebenan in dem Café mit Wattblick in Lauerstellung auf eine Friesentorte mit Bauchwehcreme gegangen sein könnte, aber dort sehe ich ihn auch nicht. Mein Blick schweift weiter nach links über eine gebogene Holzbrücke, die dort wie vom Himmel gefallen an der Grenze zwischen Watt- und Heidelandschaft den Boden überspannt. Kein Graben, kein Wasser. Die spinnen, die Menschen.
Ich überblicke das Gebiet bis nach Munkmarsch, kann sogar den kleinen Segel- und Jachthafen erkennen, sehe aber nur Säbelschnäbler und Austernfischer durch das Watt staksen. Bis zum Horizont nichts als schlüpfriges, von Würmern wimmelndes Watt.
Ich rufe noch einmal nach Helgi.
»Ich bin hier, Ahoi!«
Vor Schreck falle ich fast vom Kamin. Das gibt’s doch nicht? Die Stimme ist nur gedämpft zu hören gewesen, aber es war eindeutig die von Helgi.
»Helgi, wo steckst du denn?«
»Hier unten im Haus.« Der Wind pfeift so stark, dass ich ihn kaum verstehen kann.
Ich kralle mich am Kaminrand fest und schaue hinunter. Es ist ein enger Schlund, anfangs gerade mal möwendick, der sich nach unten hin verbreitert. Dort
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