Mordsmöwen
bemalten Fliesen an den Wänden. Auch die Holzdecke ist bemalt. Die wuchtigen Stühle am Tisch sehen wenig bequem aus, weil sie gedrechselte Lehnen besitzen. Überhaupt ist alles ziemlich edel hier drin. Eine goldene Karaffe steht auf dem Kamin und ebensolche Kerzenleuchter auf dem Fenstersims. Ich hüpfe dort hinauf und nehme einen der kleinen Metallhaken in den Schnabel, mit dem dieses verdammte Fenster eigentlich aufgehen müsste. Es will mir aber nicht gelingen, ihn zu bewegen.
»Helgi, hilf mir mal … Helgi?«
»Hier bin ich. Boah, das ist tierisch bequem!« Helgi hat sich in ein Bett geworfen, das, halb von einer Wand verborgen, in einer Nische steht. »In diesem Alkoven hat schon mein Urgroßvater gelegen, wenn die Menschen nicht zu Hause waren.«
»Spinnst du? Raus da mit dir. Du bist doch schwarz wie ein Rabe.«
»Na und? Du doch auch. Auf dem Fensterbrett sind überall deine Fußabdrücke.«
»Das ist mir schietegal. Ich versuche, das Fenster aufzukriegen.«
»Geht nicht, hab ich auch schon probiert«, sagt Helgi und wälzt sich wohlig fiepend im Bett. »Ich will hier auch gar nicht mehr raus. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich irgendwie zu Hause. Kannst du mir das glauben?«
»Nein, kann ich nicht. Ich will nämlich raus hier und Knuts Mutter vor diesen Gangstern retten!«
»Ich hab dich nicht gebeten, reinzukommen. Du bist von selbst durch den Kamin gefallen.«
Nach diesem Spruch hat Helgi ein paar Federn weniger. Er pflegt die schmerzenden Stellen und guckt mich böse an. Dann hält er es aber doch für besser, mit einer, wie ich zugeben muss, guten Idee um die Ecke zu kommen: »Wir stapeln alles, was sich in diesem Haus findet und was wir zusammentragen können, im Kaminschacht übereinander, so hoch, bis wir hinausklettern können. Wenn das Museum morgen öffnet, werden sich die Menschen wundern«, sagt Helgi und lacht aus voller Kehle.
Um kurz vor neunzehn Uhr sitzen wir, man mag es kaum glauben, nahezu vollzählig auf dem Dach des Hauses von Knuts Mutter. Ich habe die restliche Truppe aus Hörnum geholt, und wir haben uns in Position gebracht. Zumindest diejenigen Möwen, die von unserer Bande noch übrig sind: Harry, Grey, Alki, Balthasar und unser Scheff. Helgi genießt es sichtlich, endlich mal im Mittelpunkt zu stehen. Während er unsere Erlebnisse im Museum und jetzt auch noch die Abenteuergeschichten seines Urgroßvaters zum Besten gibt, beobachte ich nervös die Straße.
Wie konnte ich nur der wahnwitzigen Idee verfallen, mit dieser Gurkentruppe einen menschlichen Überfall vereiteln zu wollen? Schon der Flug von Hörnum nach Keitum war ein einziges Abenteuer. Unser kurzsichtiger Scheff führte die Formation an, dicht gefolgt von Alki, der trotz seiner Sehkraft Kurven flog, und unserem Jungspund Grey, der seinen aufgeregten Schnabel gar nicht mehr zubekam, weil er es gar nicht erwarten konnte, einen echten Raubüberfall mitzuerleben. Ohne seinen Vater Harry und unseren schlauen Balthasar wären wir wohl nie in Keitum angekommen.
Immerhin hatte sich Helgi in der Zwischenzeit brav auf dem Hausdach von Knuts Mutter in Stellung gebracht. Bei unserer Ankunft meldete er keine besonderen Vorkommnisse. Es war ja aber auch noch nicht neunzehn Uhr, wie uns die Glockenschläge der Keitumer Kirche verrieten. Die Sankt-Severin-Kirche liegt etwas außerhalb des Ortes auf einer Anhöhe. Der rote Backsteinturm setzt sich markant gegen den blauen Himmel und das üppige Wiesengrün ab und wirkt für eine Kirche zugleich unscheinbar. Viele Möwen verirren sich nicht dorthin, dafür umso mehr Menschen.
Knuts Mutter lebt in einem großen Friesenhaus mit grünen Fensterumrandungen und einer schmucken Haustür. Darüber steht in verschnörkelten Zahlen das Jahr 1786, wie Balthasar abgelesen hat. In dem großen Garten sieht alles sehr ordentlich aus. Kein Unkraut sprießt in den Blumenbeeten, in dem Apfelbäumchen sitzt ein Rotkehlchen, und im Gartenteich planscht eine Jungmöwe. Eine Jungmöwe?
»Grey, komm sofort raus da!«, schreie ich, und Harry flattert in den Garten, um seinem Ausreißer-Sohn die Federn zu lesen.
In diesem Augenblick kommt Fietje-Spitzbart auf einem Roller um die Ecke gefahren. Er stellt ihn vor dem Haus ab, geht schnurstracks auf die Eingangstür zu und klingelt. Es hört gar nicht auf zu klingeln, obwohl er den Finger längst schon wieder von der Klingel weggenommen hat. Ich wundere mich kolossal, und Fietje guckt auch ganz irritiert – vor allem nach oben zu
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