Mordsmöwen
nichts für eine Jungmöwe. Dem Albatros sei Dank, dass du wieder da bist. Wir fangen jetzt ein neues Leben an. Ich habe Baron Silver de Luft meinen Ausstieg erklärt.«
Mich setzt es beinah auf mein Hinterteil. »Du hast was?«
»Du hast richtig gehört. Gleich nachdem ein Mann unsere Auseinandersetzung gestört und uns aus der Kirche gescheucht hat. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Oberflügel gewonnen, aber nachdem unser Scheff auf Unentschieden gepocht hat und seinen Posten nicht räumen wollte, habe ich meine Konsequenzen gezogen.«
»Und wo ist unser Scheff jetzt?« Ich habe das verdammt ungute Gefühl, dass ich ab sofort allein dastehe – oder noch schlimmer: allein mit dem Scheff.
»Der ist nach Keitum geflogen.«
»Und wir bleiben in Wenningstedt, Papa? Nur wir beide? Mit eigenem Revier? Cool!«
War ja klar, dass es Grey im gemachten Nest doch besser gefällt. Nur mir gefallen Harrys Pläne ganz und gar nicht.
»Aber Harry, wenn ihr beiden jetzt auch noch geht, dann gibt es unsere Truppe wirklich nicht mehr.«
»Die gibt es schon seit Knuts Verschwinden nicht mehr, kapierst du das nicht? Diese dämlichen Crêpes waren alles, was uns als Truppe zusammengehalten hat. Wir haben sonst nichts gemeinsam, sind grundverschiedene Typen.«
»Aber ich dachte, wir hätten trotzdem …«
»Es tut mir leid, Ahoi. Aber du hast doch eine Perspektive. Auf Hallig Hooge erwartet dich ein wertvolles Brutgebiet.«
»Da scheiß ich drauf. Wenn euch das Schicksal von Mensch-Knut egal ist, obwohl er jahrelang unser Dealer war, dann haut doch ab. Ich will denjenigen drankriegen, der ihn umgebracht hat. Das sind wir ihm schuldig. Schon vergessen, er hat uns … nein, derjenige, der den Abschiedsbrief gefälscht hat und wohl gleichzeitig der Mörder ist, hat uns die Schuld an Knuts Tod gegeben.«
Harry und Grey machen betroffene Gesichter. Aber sie sagen nichts auf meine Frage hin, schütteln nur die Köpfe.
»Ihr bleibt also hier? Tja … okay, dann fliege ich jetzt allein nach Keitum, um unseren Scheff zu unterstützen.« Ich tue so, als würde ich mich auf den Weg machen wollen. Irgendwie hege ich immer noch die Hoffnung, dass ich meinen Weg nicht allein fortsetzen muss.
»Ahoi, unsere Entscheidung steht fest.«
Ich schwanke zwischen Wut und Trauer, als ich den Flügel hebe. »Gut, dann … ist das hier wohl ein Abschied.« Verdammt, jetzt sitzt mir ein Kloß im Hals. »Alles Gute für euch, und vielleicht fliegen wir uns ja mal wieder über den Weg …«
»Bestimmt – und dir auch viel Erfolg!«, ruft Harry mir hinterher.
Ich habe mich schon umgedreht. Ich will nicht, dass die beiden meine Tränen sehen. Ach Mann, eigentlich will ich gar nicht heulen, eine Möwe heult nicht, und eigentlich bin ich stinksauer, dass mich meine Kumpels so hängen lassen, aber gleichzeitig eben auch unfassbar traurig, dass es unsere Truppe nicht mehr geben soll.
Was bleibt mir nun anderes übrig, als Kurs in Richtung Keitum zu nehmen? Meinen Scheff will ich lieber nicht allein lassen. Sicher ist sicher.
Über Keitum hängen noch regenschwarze Wolken, während rundum die Sonne durchbricht. Die Backsteinfassade des Kirchturms leuchtet regelrecht vor dem dunklen Hintergrund. Diese Farben … Es gibt sie wirklich nur auf Sylt, auf dieser Insel. Aber ist es noch meine Insel? Was hält mich hier noch?
Viel Erfolg … wobei eigentlich? Bei einer längst gescheiterten Mordkommission? Bei der aussichtslosen Eroberung von Suzette? Oder viel Erfolg dabei, mein verkorkstes Leben neu aufzubauen?
Als ich Keitum erreiche, fängt es wieder an zu regnen. Genauer gesagt schüttet es wie aus Eimern. Dazu Windböen, die mich ins Trudeln bringen. Boah, dieses Wetter hier kann einem echt zusetzen. Stündlich schlägt es um, und während es an einem Ort schüttet, scheint ein paar Flügelschläge weiter die Sonne. Die Festlandmöwen schwören auf dieses Klima, sie schwärmen von der guten Luft, in der man herrliche Spazierflüge machen kann. Die müssen auch nicht bei jedem Wetter fliegen, verdammt. Und wehe, es gibt während ihres Urlaubs länger als einen Tag Regen und Sturm. Dann hört man nur noch Gekreische und Gezänk und kommt den Touri-Möwen besser nicht in die Flugbahn. Schließlich haben sie das gute Wetter mitgebucht, und wir Inselmöwen sind für das schlechte Wetter höchstpersönlich verantwortlich. Vielleicht sollte ich mich einfach nicht an dieser Insel festkrallen, zurück in meine ruhige Heimat fliegen und auf Hallig Hooge
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