Mordsmöwen
das annehmen, was mir zusteht. Vernünftig wäre das, denke ich mir, aber seit wann bin ich vernünftig? Mein Bruder wird zudem kaum erfreut sein, wenn er mich für sein Erbe des Nistplatzes mit Wattgebiet von bestem Nährwert entschädigen muss.
Während ich in den Landeanflug auf das historische Friesenhaus von Knuts Mutter gehe, kommt mir ein Gedanke: Knut hatte auch einen Bruder. Was wäre, wenn Sönke ihn aus dem Weg geräumt hat, damit er beim Erbe nicht teilen muss? Wenn er vielleicht sogar ein Verhältnis mit Knuts Freundin Eva hatte? Was, wenn die beiden gemeinsame Sache gemacht haben? Nur warum reden der Pizzabäcker und Spitzbart-Fietje dann von einer Viktoria, die die Leiche im Meer versenkt hat? Wie auch immer, zunächst muss ich Knuts Mutter irgendwie begreiflich machen, dass ihr Sohn Knut leider tot ist und sie sich nicht länger erpressen lassen darf. Aber vielleicht hat das mein Scheff schon erledigt.
Im strömenden Regen mache ich mich zum Landeanflug auf den Kamin des Anwesens von Knuts Mutter bereit, als ich aus dem Augenwinkel im Garten etwas sehe – eine ziemlich gangunsichere, um nicht zu sagen torkelnde Möwe zwischen Gartenteich und Strandkorb. Mein Scheff. Wie ein Pfeil schieße ich zu ihm hinunter und lande neben ihm.
Seine Thunfischdose, neuerdings nicht nur rostig, sondern auch ziemlich verbeult, hängt bedenklich schräg über seinem rechten Auge. Seine Federn sehen aus, als wäre er gerade noch einmal lebendig einem Triebwerk entkommen, und genauso verpeilt schaut er mich auch an, während der Regen auf seine Blechkappe trommelt. Zudem geht ein gewaltiger Alkoholgestank von ihm aus; so streng riecht Alki in seinen schlimmsten Phasen nicht.
Mein Scheff – wobei mir die Bezeichnung Ex-Scheff bei diesem peinlichen Auftritt inzwischen lieber ist – wird sich doch nicht Mut angesoffen haben, um Frau Johannsen gegenüberzutreten und ihr den Tod ihres Sohnes mitzuteilen? Seit wann trinkt Baron Silver de Luft überhaupt? Und auch noch am helllichten Tag? Die Sache wird noch viel merkwürdiger: Aus dem mir halb zugewandten Strandkorb sehe ich stämmige Waden herausschauen, die Füße in Hausschuhen, die Knie nur von einem geblümten Hausmantel bedeckt.
Was, um alles in der Welt, macht Knuts Mutter bei diesem Regen draußen im Strandkorb? Sie kann sich doch den Tod holen. Ein Gedanke durchfährt mich, und ich schaue nach. Frau Johannsen sitzt mit geschlossenen Augen da, der Mund steht offen und die Hände sind im Schoß gefaltet. Richtig friedlich sieht sie aus.
»Scheff, was ist hier los?«
Baron Silver de Luft schaut mich an, als würde ich wie ein Huhn gackern. An seinem Blick kann ich förmlich sehen, wie seine verknoteten Gehirnwindungen arbeiten. Mit dem Flügel zeigt er auf Knuts Mutter, bemüht sich dabei um Haltung, macht den Schnabel auf und klappt ihn wieder zu.
»Scheff?«
Erneut öffnet er den Schnabel; seine Zunge macht Gymnastikübungen, damit er den offenbar ziemlich komplizierten Satz über die Schnabelkante bringt. Genau ein Wort bringt er schließlich heraus, und das klingt wie an ein Gummiseil angebunden.
»Tooohoot.«
»Ja, aber … wie … warum … wer …?« Verdammt, jetzt fange ich auch schon an zu stottern. Aber immerhin scheint mein Scheff grundsätzlich auskunftsfreudig zu sein, denn er holt tief Luft und plustert sich auf, bis sich sein Brustkorb vorwölbt. Dann hält er mitten in der Atembewegung inne, als hätte er vergessen, was er sagen wollte.
»Scheff?«
Er breitet die Flügel aus, macht eine todernste Miene und scheint sich sicher, dass er mir den komplexen Sachverhalt jetzt mitteilen kann. Dann platzt es aus ihm heraus: »I’m singing in the rain, I’m singing in the rain …« Er wirft ein Bein enthusiastisch in die Luft und dreht sich um die eigene Achse. »What a gloriiiiious feeling, I’m happy again. I’m laughing at clouds …« Noch eine Drehung, und damit fällt er vor die Füße von Frau Johannsen beziehungsweise vor eine dunkle Flasche. Sie ist leer, aber allein der Geruch sagt mir, dass dieses Zeug selbst unseren Alki umhauen würde. Mit einem Schlag werden mir zwei Dinge klar: Erstens, Frau Johannsen ist nicht tot, sie schläft nur, und zweitens wird sich mein Scheff nachher die Seele aus dem Leib kotzen. Mein Ex-Scheff.
»Wie viel haben Sie davon getrunken?«, frage ich ihn, um die Dauer seiner Flugunfähigkeit einschätzen zu können. Ich habe nämlich keinen Bock, hier noch länger im Regen rumzustehen. Und bis
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