Mordsmöwen
Knuts Mutter aufwacht, das kann noch dauern.
»Nisch viel. Abba guutes Seug.«
»Wie viel ist nicht viel?«
»Nur ananallüsiert. Ich bin der Scheff. Der Scheff. Habe alles unnersucht. Alles.«
»Das merke ich. Die gute Frau Johannsen ist aber nicht tot. Sie ist nur betrunken und schläft ihren Rausch aus.«
»Neihein, sie is toohoot.«
Man sollte seinem Scheff nicht widersprechen, auch nicht, wenn es der Ex-Scheff ist, und schon gar nicht, wenn er betrunken ist. Ich tue es trotzdem, sonst hieße ich nicht Ahoi.
»Sie schläft nur. Menschen vertragen viel mehr als Möwen.«
»Abba dasda nist …« Er hüpft wagemutig auf den Oberschenkel von Frau Johannsen, dass nicht nur seine Thunfischdose gefährlich in Schieflage gerät, und ich bete darum, dass sie nicht doch plötzlich aufwacht. Der Anblick meines Scheffs würde ihr Herz definitiv zum Stillstand bringen.
»Guckst du da«, sagt Baron Silver de Luft und deutet mit dem Flügel in die Ecke des Strandkorbs. Das bringt ihn ein zweites Mal fast aus dem Gleichgewicht, und ich hüpfe zu ihm hinauf, um ihn vor dem Absturz zu bewahren.
Neben Knuts Mutter sehe ich eine kleine weiße Plastikdose liegen.
»Das ischein Beweis«, tönt es neben mir.
In meinem Hirn ist der Teufel los. Also doch tot. »Hat sie sich etwa umgebracht?«
Baron Silver de Luft ringt um sein Gleichgewicht wie ein betrunkener Matrose auf schwankenden Schiffsplanken. »Jawoll, hat sie. Sie is tot. Bumms, zack, aus. Habbich alles analallüsiert. Mausetot. Wie eine mausetote Möwe.« Er fängt an zu lachen und kriegt sich nicht mehr ein. »Mausetote Möwe!«
Mir wird ganz anders. Alkohol, Tabletten – das habe ich schon zu oft im Möwenkino gesehen. Aber noch nie hatte ich einen toten Menschen vor und einen besoffenen Ex-Scheff neben mir.
»Aber Sie haben doch die Tabletten nicht etwa auch analysiert?«
»Neihein, waren keine mehr drin. Sauerei.« Er fängt wieder an zu lachen. »Sauerei, dassis komisch.«
»Hier ist leider nichts komisch.«
Baron Silver de Luft macht eine ernste Miene, soweit ihm das möglich ist. »Nein?«
»Nein. Was machen wir denn jetzt?« Derart überfordert mit einer Situation habe ich mich in meinem ganzen Möwenleben noch nicht gefühlt.
Ein Lächeln geht über des Scheffs Gesicht, als sei ihm schlagartig etwas eingefallen. Mahnend hebt er den Flügel. Ganz gleich, welchen Rat er mir jetzt gibt, ich werde ihn befolgen.
»What shall we do with a drunken seagull, what shall we do with a drunken seagull, what shall we do with a drunken seagull early in the morning …«
Boah, wenn ich keine Angst haben müsste, dass er mir ersäuft, würde ich ihn zur Ausnüchterung in den Gartenteich werfen. Was soll ich denn jetzt machen? Was tut man mit einer Leiche und einem besoffenen Scheff? Richtig. Man nimmt die Beine unter die Flügel und guckt, dass man Himmel gewinnt. Allerdings meldet sich sofort mein schlechtes Gewissen. Ich kann doch Baron Silver de Luft hier nicht im Stich lassen, nein, das gehört sich nicht. Hm, ich könnte meinen Scheff an ein Seil anbinden und ihn abschleppen. Nur, wo finde ich ein Seil? Mist, Knuts Mutter trägt keinen Stoffgürtel an ihrem Morgenmantel – dafür entdecke ich unter dem Obstbaum einen langen, dünnen Zweig, den der Sturm abgebrochen hat. Dann eben eine Abschleppstange. Das dürfte klappen, wenn mein Scheff sich den Zweig zwischen den Schnabel klemmt. Guter Plan. So kommen wir auf jeden Fall bis nach Hause, und wenn er dann wieder nüchtern ist, können wir in Ruhe nachdenken.
»Scheff, wir nehmen diesen Zweig als … Scheff?« Das darf doch nicht wahr sein. Er liegt auf dem breiten Schoß von Knuts Mutter und ist eingepennt. Tief und fest. Da hilft auch kein Rütteln. Also gut, neuer Plan. Vielleicht funktioniert der auch nicht.
SECHS
»Ich will nicht Taxi fahren«, mault Baron Silver de Luft.
»Das ist auch kein Taxi, das ist ein Polizeiauto.« Am liebsten hätte ich noch hinzugefügt: Und jetzt halten Sie Ihren verdammten Schnabel! Aber ich verkneife es mir, weil ich keine Meuterei auf dem Blaulicht haben will. Ich bin froh, dass die Jungs uns mitnehmen, wenn auch unwissentlich auf dem Autodach, aber genau deshalb soll Baron Silver de Luft jetzt ja auch seinen Schnabel halten. Die Polizei war schneller da, als ich mir einen Plan ausdenken konnte. Denn offenbar hat mein Scheff sein Seemöwen-Lied laut genug gesungen, dass die Nachbarn auf uns aufmerksam wurden – und dabei natürlich auch auf Frau Johannsen.
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