Mordsmöwen
ich sehe mich noch als Jungmöwe auf dem Dach herumhüpfen und mit dem Wind fangen spielen, als wäre keine Zeit vergangen. Und doch ist etwas anders. Auf dem Kamin thront jetzt kein kuscheliges, praktisches Möwennest wie früher, sondern ein Nistplatz in beinahe so wuchtiger Präsenz wie ein Storchennest. Darin sind dieses Jahr die angesprochenen Küken meines Bruders zur Welt gekommen. Wenn man die Brutzeit berechnet, irgendwann zwischen Anfang und Mitte Juni, und gut vier Wochen später flügge geworden. Jetzt ist Mitte August, das heißt, er hat seine Freundin wieder arbeiten geschickt, kaum dass die Küken das Nest verlassen haben. Dabei können die Kleinen doch noch nicht allein auf sich aufpassen. Sie brauchen hin und wieder elterliche Fütterung und vor allem Erziehung. Glaubt mein Bruder denn, nur weil aus ihm was geworden ist, muss er sich um seine Kinder nicht kümmern?
Meine Mutter entdecke ich an der windabgewandten Seite am Kamin. Obwohl sie in der Sonne liegt, zittern ihre Flügel. Und sie ist wirklich schmal. Man glaubt fast schon die Knochen unter ihren Federn zu sehen. Ganz stumpf ist ihr Gefieder, früher hatte es einen prächtigen Glanz.
Sie hebt fragend den Kopf und richtet das Wort an ihre Schwester. »Hallo, Emma, wen hast du denn da mitgebracht? Ganz schön jung, dein neuer Freund.«
Ich muss schlucken. Die Enttäuschung sitzt mir so fest in der Kehle, dass ich glaube, kein Wort dran vorbeizubringen. »Ich bin es, Ahoi. Dein Sohn.«
Sie macht die Augen weit auf. »Duu?«
Also, Begeisterung klingt anders.
»Ich habe gehört, es geht dir nicht so gut, Mutter.« Die Worte klingen merkwürdig in meinen Ohren. Aber was soll man auch sagen, wenn man sich nach zehn Jahren zum ersten Mal wieder gegenübersteht?
»Was willst du hier?« Sie fragt es ohne Vorwurf. Das Verletzende ist die Gleichgültigkeit in ihrer Stimme.
»Ich habe Aaron um finanzielle Hilfe gebeten, aber die hat er mir verweigert. Dabei geht es um einen Notfall. Ich benötige dringend fünfzig Makrelen.«
»Ach, und wo soll ich die hernehmen? Dein Bruder verwaltet meinen gesamten Vorrat, ich habe ihm die Vollmacht übertragen.«
Meine Tante zieht die Federn kraus. »Du wirst doch wohl noch selbst über deine Finanzen entscheiden dürfen? So, wie ich dich kenne, hast du doch noch irgendwo auf einer Sandbank ein Lager, von dem nicht mal Aaron was weiß. Vor dir steht dein Sohn, Irma, er braucht dich. Gut, fünfzig Makrelen sind eine Menge, aber es ist kein Vermögen – vor allem nicht bei euren Verhältnissen. Willst du ihm nicht helfen?«
»Ich habe mich um Ahoi gekümmert, bis er vier Jahre alt und damit erwachsen war. Mehr ist ja wohl nicht meine Pflicht als Mutter.«
»Gekümmert? Du hättest ihn schon im Nest verhungern lassen, wenn ich ihn nicht heimlich gefüttert hätte.«
Jetzt ist der Moment gekommen, an dem ich die Frage stellen muss, die mich mein ganzes Leben lang quälte: »Mama, warum magst du mich nicht? Was habe ich falsch gemacht? Du konntest mich von Anfang an nicht leiden, richtig?«
Meine Mutter zögert. Schmerzhaft lange. Für einen Moment verfalle ich dem Glauben, sie würde mir versichern, dass ich mir das nur einbilde und alles ein großes Missverständnis ist und sie mich liebt. Ich werde eines Besseren belehrt.
»Du möchtest die Wahrheit hören? Nun gut. Du willst es nicht anders. Ich hätte bis an mein Lebensende geschwiegen, aber vielleicht ist es jetzt an der Zeit. Du bist erwachsen genug, dich mit deinem Schicksal auseinanderzusetzen.« Noch ehe ich mich wirklich fragen kann, was sie damit meint, fährt sie fort: »Du bist schuld, dass dein Vater tot ist.«
»Wie bitte?« Ohne überhaupt zu wissen, was ich getan haben könnte, fernab auf Sylt, überrollt mich eine heiße Welle von Schuldgefühlen.
»Er stand dir näher als ich, hat sich heimlich Sorgen um dich gemacht. Vergangenen Monat hat er mir eines schönen Morgens eröffnet, dass er dich besuchen will. Zum ersten Mal überhaupt hat er unsere kleine Heimatinsel verlassen und ist über Sylt in das Triebwerk eines solchen Monstervogels geraten.«
»Aber daran bin doch nicht ich schuld!« Wenn die Situation nicht so dramatisch wäre, müsste ich fast lachen.
»Doch. Und der Rabe hat mir das Unglück prophezeit.«
»Welcher Rabe?« Auch Tante Emma ist jetzt entsetzt.
»Als ich damals gebrütet habe, zog er als Unglücksrabe umher und hat seine Wahrsagerdienste angeboten. Ich habe ihn zur Zukunft meiner Kinder befragt. Er hat sich
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