Mordsmöwen
von meiner Angst geschrieben, dass sich Aaron alles unter die Kralle reißt und Ahoi nichts vom Erbe seines Vaters bekommt – weil ihm niemand mitteilt, dass sein Vater überhaupt gestorben ist!«
Meine Mutter bleibt von dem versteckten Vorwurf sichtlich unbeeindruckt. Sie kneift nur die Augen zusammen. »Und jetzt willst du dir gleich das Familienerbe sichern?«
Ich bringe ein müdes Lächeln zustande. »Nein, ich weiß, dass du Aaron den Nistplatz vermachen wirst, aber ich werde meinen Pflichtteil einfordern, wenn es so weit ist und du nicht mehr da bist.«
»Aaron kann dich nicht mit Wattgebiet entschädigen. Die Austernbänke und die Herings- und Makrelenfabrik liegen in diesem Bereich.«
Jetzt spiele ich den Gleichgültigen. »Ich bin auch nicht an Wattgebiet interessiert. Mein Bruder soll mich auszahlen.«
»Wie soll er das denn machen? So viele Makrelen hat selbst er nicht. Du weißt ganz genau, wie viel dieser Nistplatz wert ist. Im Prinzip unbezahlbar. Noch dazu ist er seit Generationen in Familienbesitz. So wahr ich hier stehe, dieses Nest wird nicht verkauft, und das wird auch Aaron nicht zulassen.«
»Dann muss er eben einen Kredit bei der Seehundbank aufnehmen.«
»Und sich bis an sein Lebensende verschulden?« Sie macht einen Schritt auf mich zu. »Deinetwegen?« Ihre Stimme ist eiskalt. Sie kommt noch näher.
Ich weiche vor ihr zurück. Ich kann nicht einschätzen, was sie vorhat. Einerseits traue ich ihr alles zu, aber sie ist doch meine Mutter. Ich mache noch einen Schritt rückwärts – und falle vom Dach. Reglos bleibe ich auf dem Rücken liegen. Mein Schock macht mich bewegungsunfähig.
»Heiliger Albatros, ist er tot?«, höre ich die Stimme meiner Tante fragen.
»Hoffentlich.«
Meine Mutter. Eine Frau, die in diesem Augenblick ihren Platz in meinem Herzen verliert und für mich tatsächlich stirbt, innerlich.
* * *
Den Rückflug lege ich überwiegend im Blindflug zurück. Vor lauter Tränen kann ich nur die Umrisse von Amrum und Föhr wahrnehmen, als ich zwischen den beiden Inseln durchfliege. Meine Tante ist mir noch ein paar Flügelschläge weit gefolgt, hat dann aber auf dem offenen Meer beigedreht und ist wieder nach Hooge zurückgeflogen. Sie hat verstanden, dass ich allein sein will, und auch, dass sie mir jetzt nicht helfen kann.
Wenigstens muss ich nur geradeaus fliegen, um wieder nach Sylt zu kommen. Nur was will ich da eigentlich noch? Ich breite die Flügel aus und lasse mich vom Wind tragen. Unter mir gleitet ein Segelboot über die sanften Wellen. Es hat einen blauen Rumpf mit einem weißen Streifen. Ich habe es schon einmal gesehen, als ich im Sonnenuntergang in Weltuntergangsstimmung auf dem Dach des Crêpes-Standes saß. An dem Abend, an dem uns klar wurde, dass unser Crêpes-Stand so schnell nicht wieder aufmachen wird.
Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Platz? Ich spüre, dass irgendwo noch etwas auf mich wartet – nur wo? Und finde ich dort auch die Liebe? Vielleicht sollte ich mich einfach auf den Mast des Segelbootes setzen und mich in die Welt hinaustreiben lassen. So wie Jonathan – alles hinter mir lassen und in eine neue Zukunft aufbrechen.
Eigentlich fühlt sich der Plan ganz gut an in der Bauchgegend. Die Zukunft kann nur noch besser werden. Ich lächle ein wenig, als ich in den Sinkflug auf das Segelboot gehe. Ich fühle mich schon ein bisschen befreiter, bin sogar froh darüber, dass ich noch am Leben bin und vor allem, dass jetzt ein neues Leben vor mir liegt. Schlimmer kann es nicht mehr kommen.
Es kann. Der Mast ist bereits von einer Möwe besetzt. Kein Problem, denken Sie? Die kann man ja verjagen?
»Alki! Was machst du denn hier?«
»Ahoi! Dich schickt der Himmel.«
Ich bin mir nicht sicher, ob da nicht vielmehr der Teufel seine Finger im Spiel hat. Auf meiner Wunschliste steht jedenfalls kein gemeinsamer Segeltörn mit Alki.
»Was ist denn los?«, frage ich, obwohl ich das eigentlich gar nicht wissen will.
»Da unten, in der Kajüte, sitzt unser Knut!«
»Bitte was?« Egal, was Alki getrunken hat, das will ich jetzt auch haben. Ich fliege weiter neben ihm her.
»Ja! Ich observiere ihn schon seit gestern Abend. Ich bin von meiner Tagestherapie nach Hause gekommen, aber keiner von euch war mehr da. Ich dachte, ihr hättet mich im Stich gelassen. Und als ich verzweifelt in den Sonnenuntergang schaute, fuhr da plötzlich dieses Boot vorbei, und ich habe gesehen, wie Knut die Segel gehisst hat. Da bin ich sofort hingeflogen – was
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