Mordsmöwen
fünfzig Boote liegen. Die meisten von ihnen sind abgedeckt und werden nur ein paar wenige Tage im Jahr aufs Meer hinaus bewegt, wenn ihre Besitzer den Weg auf die Insel finden. Während Sönke damit beschäftigt ist, trotz unseres Geschreis die Nerven zu behalten und sicher anzulegen, sehen wir, wie zwei Beamte den Anlegesteg betreten.
Wir brechen in Jubelgeschrei aus und setzen uns auf die Kaimauer. Möwenkino, erste Reihe. Fehlt nur das Popcorn. Dafür haben wir eine Live-Vorstellung.
Warum aber habe ich nur dieses verdammt ungute Gefühl, dass wir zwar einen entscheidenden Ermittlungserfolg erzielt, aber noch immer nicht das Rätsel um Knuts Verschwinden gelöst haben? Es liegt wohl an der Unbedarftheit, mit der Sönke den Beamten gegenübertritt.
»Kann ich Ihnen weiterhelfen?« Mit einem Tau in der Hand springt er auf den Steg, um das Boot festzumachen.
»Christiansen mein Name, das ist mein Kollege Bilge von der Kripo Westerland. Wir haben gerade die ausgerissene Kuh eines Bauern auf dessen Hänger geladen, als wir beim Blick aufs Meer auf Ihr Boot aufmerksam wurden – das war ja schon ein außergewöhnliches Geschrei, was die Möwen da veranstaltet haben. Da wollten wir mal nach dem Rechten sehen. Ist ein hübsches Boot, Ihre ›Viktoria‹.«
Alki streckt den Flügel aus, und ich klatsche ab. »Gut gemacht.« Auch unser Scheff hat ein anerkennendes Nicken für Alki übrig, der deshalb einen ganz roten Schnabel kriegt.
»Oh, danke der Nachfrage, aber es ist alles in Ordnung«, sagt Sönke und befestigt das nächste Tau. »Die Dame hier hat noch nie jemanden in Seenot gebracht, und ich habe schon als Kind segeln gelernt. Keine Ahnung, was diese Biester geritten hat. Hab ich auch noch nie erlebt. Dabei habe ich noch nicht mal einen Fisch gefangen.«
Biester … Jetzt sind meine Sympathien eindeutig geklärt. Und wenn ich mir die Blicke zwischen den Polizisten anschaue, dann wissen die ebenfalls ganz genau, wen sie mit Sönke vor sich haben, und geben sich nur so harmlos mit ihren Fragen. Einzig Sönke selbst bekommt von der Atmosphäre nichts mit, weil es seine Zeit dauert, bis das Boot festgemacht ist und er sein Angelgerät von Bord gebracht hat.
»Sie waren allein zum Angeln draußen?«
»Nachtangeln, ja. Und heute den Tag über. Aber keine einzige Makrele. Keine Ahnung, wo der Schwarm gerade vorbeizieht, eigentlich ist ja noch Saison für die Fische. Vielleicht war es das aber auch schon für dieses Jahr.« Sönke klettert zurück auf sein Boot.
»Haben Sie auch eine Tauchausrüstung an Bord?«
»Ja, aber in letzter Zeit habe ich mich mehr aufs Angeln verlegt, statt die Fische einfach so vor meinen Augen vorbeiziehen zu lassen.« Sönke lacht.
»Fahren noch andere außer Ihnen das Boot?«
»Nein, da lasse ich niemanden ran. Familienheiligtum, sozusagen. Ich bin aber der Einzige, der das Segel-Hobby beibehalten hat.«
»Gehört Ihnen das Boot schon länger?«
»Seit mein Vater vor sieben Jahren gestorben ist.« Sönke geht in die Kajüte, und es dauert eine Weile, bis er mit einer gepackten Tasche wieder herauskommt.
»Oh, dann war er wohl noch nicht besonders alt, als er gestorben ist?«, fragt der Polizist.
»Dreiundsechzig ist er geworden. Der Wetterdienst hatte vor Orkanböen in der Nacht gewarnt, und mein Vater wollte zum Boot fahren, nachsehen, ob es gut vertäut ist. Da hat eine Orkanböe seinen Geländewagen kurz vor Hörnum wie ein Stück Papier von der Straße gehoben. Er hatte keine Chance.« Sönke hält inne und betrachtet das Boot. »Von ihm habe ich das Segeln gelernt. Sein größtes Hobby, als er sich für den aktiven Surfsport irgendwann zu alt fühlte. Er gehörte zu den Pionieren, die die Bretter in den siebziger Jahren nach Sylt gebracht haben. Von ihm habe ich auch den Segel- und Surfshop in Westerland übernommen.«
»Das wissen wir.«
»Aha?«
»Sönke Johannsen ist Ihr Name, richtig?«
»Ja?« Er schließt die Tür zu seiner Kajüte.
»Wir waren schon bei Ihnen zu Hause und dann im Laden. Dort sagte man uns, dass Sie sich für heute freigenommen haben. Telefonisch konnten wir Sie leider auch nicht erreichen.«
Sönke springt mit seiner Tasche leichtfüßig auf den Steg. »Ist das ein Verbrechen? Mein Handy liegt zu Hause, damit ich mal meine Ruhe habe – auf dem Boot habe ich ein Prepaid-Handy dabei, um notfalls telefonieren zu können.«
»Wir wollten Sie aufsuchen, weil wir Ihnen leider mitteilen müssen, dass Ihre Mutter heute früh einen Suizidversuch
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