Mordsmöwen
begangen hat. Die Ärzte in der Klinik konnten ihr den Magen auspumpen, und es geht ihr schon wesentlich besser. Sie kann morgen Vormittag wohl wieder entlassen werden. Nur sollten Sie sich in den nächsten Tagen vielleicht etwas vermehrt um Ihre Mutter kümmern.«
»Ach du meine Güte! Muss sie dann nicht in eine Psychiatrie?«
»Grundsätzlich schon. Tabletteneinnahmen bei einem Suizidversuch sind in der Regel deutliche Hilfeschreie, dass ein Mensch so nicht mehr leben will. Der grundsätzliche Lebenswille ist aber noch da. Wenn sich Ihre Mutter wirklich hätte umbringen wollen, hätte sie einen sichereren Weg gewählt.«
»Sie hat zwar Krebs im Endstadium, aber ich dachte, sie hätte sich mit der Diagnose abgefunden und würde ihr Ende abwarten. Noch hat sie ja keine Schmerzen, auch wenn man ihr sagte, dass die jetzt sehr bald stärker werden und es schnell gehen würde.«
»Es wäre wohl sinnvoll, wenn Sie sich angesichts der Diagnose um einen Platz in einem Hospiz kümmern würden, dort könnte man Ihre Mutter sehr gut betreuen. Aber das besprechen Sie am besten mit einem Arzt.«
»Sie hat gesagt, dass sie zu Hause sterben will.«
»Nun gut, das ist Ihre private Angelegenheit. Wären Sie bereit, uns noch ein paar Fragen zu beantworten?«
Jetzt stellt Sönke seine Gepäcktasche doch auf dem Steg ab und lehnt sich an einen der Stromverteilerkästen. »Bitte.«
»Gibt es weitere Schlüssel für das Boot?«
»Natürlich. Der Zweitschlüssel liegt bei mir zu Hause.«
»Sie leben allein?«
»Ja. Ich habe eine Freundin derzeit, aber wir leben nicht zusammen. Aber das ist jetzt doch ein bisschen privat, finden Sie nicht?«
»Danach haben wir auch nicht gefragt. Wir wollten keine Details wissen. Vielmehr: Warum gehört ein Fernglas zu Ihrer Angelausrüstung?«
Sönke zieht die Augenbrauen zusammen, spricht seine Verwunderung über die Frage aber nicht laut aus. »Ich beobachte damit die Oberflächenbewegungen des Wassers. Wenn das Wasser brodelt, sind Makrelenschwärme unterwegs.«
»Sie haben nicht nach Ihrem vermissten Bruder gesucht?«
»Was? Nein, warum?«
»Nun, es hätte ja sein können. Hier am Strand verliert sich seine Spur, das haben Sie den Kollegen bei der Vermisstenanzeige selbst zu Protokoll gegeben. Es deuten zwar einige Anzeichen darauf hin, dass er noch einmal in seiner Wohnung gewesen ist, aber gesehen wurde er dort nicht. Hier ist sein letzter bekannter Aufenthaltsort, an dem er von Zeugen lebend gesehen wurde.«
»Ja, aber wenn er wirklich ins Meer gegangen ist, um sich zu töten, dann ist das wohl aussichtslos, seine Leiche bald zu finden, wenn überhaupt. Das haben doch auch die Polizeitaucher gesagt.«
»Können Sie uns etwas zum seelischen Zustand Ihrer Mutter in den vergangenen Tagen sagen?«
»Nein. Das kann ich nicht, leider. Ich gehe einmal in der Woche für sie einkaufen und schaue auf einen Kaffee vorbei, aber mehr Zeit habe ich aus beruflichen Gründen leider nicht. In der Hauptsaison stehe ich von morgens bis spätabends in meinem Laden und falle danach hundemüde ins Bett. Sieben Tage die Woche. Heute ist mein erster freier Tag seit Pfingsten. In den letzten Tagen hatte ich gar keinen Kontakt zu ihr. Seit der Diagnose mit dem Bauchspeicheldrüsenkrebs hat sie sich sehr zurückgezogen und seit dem Verschwinden meines Bruders noch mehr.«
»Wie war das Verhältnis Ihrer Mutter zu ihrem Sohn Knut?«
»Nicht das allerbeste, aber mein Zwillingsbruder war schon immer recht eigen und meine Mutter auch. Das hat sich oft nicht vertragen.«
Da haben wir es, denke ich. Zwillingsbrüder.
»Wann haben Sie Ihre Mutter zuletzt gesehen?«
»An dem Tag, als das Verschwinden meines Bruders bekannt wurde. Ich war am Vormittag für sie einkaufen, und meine Mutter bat mich, auf dem Rückweg, bevor ich meinen Laden aufmache, meinem Bruder noch eine große Schale frische Johannisbeeren aus ihrem Garten vorbeizubringen. Das liegt ja quasi auf dem Weg. Dazu haben mich Ihre Kollegen aber schon befragt, als wir die Vermisstenanzeige aufgegeben haben.«
»Und wie sind Sie in den Besitz des Abschiedsbriefs gekommen?«
»Der Abschiedsbrief … Das habe ich doch auch schon zu Protokoll gegeben. Die Tür stand offen. Und das fand ich merkwürdig. Also bin ich in die Wohnung gegangen, und zwischen der Unordnung und den merkwürdigen Federn überall lag der Brief auf dem Bett. Auf das alles konnte ich mir keinen Reim machen, also habe ich meine Mutter angerufen, und wir sind zu Ihnen auf die
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