Mordspech (German Edition)
eine optimale Sicherung des Schockraumes nicht so einfach ist. Er liegt im Parterre, sodass ich mich nicht allein auf den Gang draußen konzentrieren kann. Ich muss auch permanent das ebenerdige Fenster im Auge haben. Es ist zwar geschlossen, aber wer da unbedingt rein will, kommt auch rein. Sicherheitshalber habe ich die Jalousien heruntergelassen – falls der Killer auf die Idee kommt, durchs Fenster zu schießen – und Melanies Bett mitsamt dem Tropf ganz nach rechts an die Wand aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich geschoben.
Das hat auch den Vorteil, dass ein potenzieller Angreifer das Bett nicht gleich sieht, wenn er zur Tür hereinkommt. Was mir für den Bruchteil einer Sekunde einen wichtigen Vorteil verschafft, den es strategisch klug und mit kühlem Kopf zu nutzen gilt, wenn es so weit ist.
Ich habe mich direkt neben der Tür an der Wand postiert und warte. Unbeweglich. Hellwach, wie ein Raubtier, das auf Beute lauert. Meine Hände zittern leicht, und mir steht der blanke Schweiß auf der Stirn. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste. Fünfzig Jahre, davon die Hälfte im Polizeidienst. Das hinterlässt Spuren. Man wird nervöser im Alter. Fahriger. Und dennoch, rede ich mir Mut zu, wenn man erst mal ein halbes Jahrhundert auf dieser Welt ist, kommt man mit jeder Situation zurecht.
Die Dienstpistole, eine Heckler & Koch P 2000, Kaliber neun mal neunzehn Millimeter, liegt griffbereit neben mir. Sie ist entsichert und geladen. Ich bin auf alles vorbereitet. Wer auch immer meiner Tochter etwas antun will, er wird scheitern.
Angespannt lausche ich den Geräuschen draußen vor der Tür. Permanent werden irgendwelche Krankentragen durch die Gänge geschoben, läuten Telefone, sind eilige Schritte zu hören. Deutlich ist das Stöhnen von Verletzten wahrnehmbar und die besorgten Stimmen Angehöriger.
Inzwischen ist es früher Nachmittag, und Melanie schläft noch immer. Ich bin darüber ganz froh, denn sie würde Fragen stellen, wenn sie mich hier so sieht. Meine Antworten könnten ihren Schock verschlimmern, was ganz großer Mist wäre, denn ich will sie ja hier raushaben. Kein Ort ist unsicherer als ein Krankenhaus. Jeder Ein- und Ausgang, jede Verlegung und medizinische Maßnahme wird protokolliert. Für einen Verbrecher, der einem Patienten ans Leder will, ist das ein idealer Umstand. Er muss nur die Protokolle einsehen und kann seine Maßnahmen dem Gesundheitszustand seines Opfers anpassen. Ich hatte solche Fälle schon. Das Böse hat keine Skrupel.
Hünerbein sucht derweil Melanies Wohnung nach Hinweisen ab, sichtet das Persönlichste einer jungen Frau. Liebesbriefe, Unterlagen, Adressbücher, Telefonverzeichnisse. Er wird Fotoalben durchblättern und im Computer nach verdächtigen E-Mail-Adressen fahnden.
Noch so eine neumodische Angewohnheit junger Leute. Die schicken sich keine Post mehr, die versenden E-Mails und sparen die Briefmarken. Schon verblüffend, dieser technische Fortschritt. Und alles basiert auf Nullen und Einsen, einem binomischen System.
Tja, ich kann da nicht mithalten. Früher, im guten alten analogen Zeitalter, konnte man den Kindern noch die Dinge erklären. Wie ein Plattenspieler funktioniert, zum Beispiel, oder ein Telefon. Wenn ich jemandem heute erzählen müsste, wie das mit CD -Spielern und Handys geht, käme ich ziemlich ins Schwitzen. Wir erleben einen ungeheuren technischen Wandel, eine digitale Revolution; die Welt wird aufgeteilt in Bits und Bytes – und unsereins blickt nicht mehr durch.
Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Melanie plötzlich in meinem Leben auftauchte. Kurz nach dem Mauerfall war das. Ein strubbeliger, kleiner Punk aus Görlitz, der behauptete, meine Tochter zu sein. Es heißt ja immer, Vater werden ist nicht schwer, aber damals wurde ich von meiner Vaterschaft regelrecht überrumpelt. Das Ergebnis einer alten Jugendliebe in Ostberlin. Monika. Die Mauer hatte jahrelang zwischen uns gestanden, es gab keine Kontakte mehr nach drüben – und dann stand Melanie plötzlich vor mir, in einer turbulenten Novembernacht, und ich hatte Familie.
Man kann fünfzehn verlorene Jahre nicht aufholen. Vom ersten Tag an war ich Vater einer Pubertierenden. Mit Erziehung ist da nicht mehr viel. Wir flogen im Urlaub nach Mallorca, um ihr die weite Welt zu zeigen. Doch sie zog es mehr in die Ostberliner Autonomenszene. Was habe ich geredet und gebettelt. Am Ende brauchte es eine handfeste Straßenschlacht, um sie da rauszuholen.
Dann kam die Zeit, in
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