Mordspech (German Edition)
die Patrone, die den Kurier getroffen hat«, erkundige ich mich, »habt ihr dazu schon was?«
»Gewehrmunition«, erklärt Damaschke, ».300 Winchester Magnum.«
»Das heißt, es wurde mit einem Gewehr auf den Fahrradboten geschossen?«
»Das heißt es.« Damaschke nickt.
»Und?«
»Was und?«
»Was für ein Gewehr?«
»Tja, keine Ahnung.« Damaschke hebt die Hände. »Diese Patronen sind seit den frühen sechziger Jahren auf dem Markt. Gibt’s als Weich- und Hartmantelgeschosse. Diese hier hat einen harten Mantel, deswegen der glatte Durchschuss. Aber womit genau der Schuss abgegeben wurde – ehrlich, das wird schwierig. Die Bundeswehr nutzt solche Munition, sämtliche NATO -Staaten, Jäger, was weiß ich? Die Win Mag passt in viele Waffen. Wir werden das noch genauer untersuchen. Vielleicht können wir später mehr dazu sagen.«
»Wir bitten darum«, sagt Hünerbein. »Dringend.«
»Na sicher.« Damaschke wartet. »Sonst noch was?«
»Vorerst nicht, danke.« Hünerbein nestelt eine Zigarettenpackung aus seinem wallenden Trenchcoat und bietet mir eine an. »Willst du meine Meinung hören?«
»Aber immer.« Ich warte, bis er sich auch eine Zigarette zieht, und gebe ihm Feuer.
»Wir haben es mit einem Killer zu tun.« Hünerbein inhaliert geräuschvoll. »Ein Profi. Scharfschütze wahrscheinlich.«
Interessante Theorie. »Aber wer setzt einen Scharfschützen auf einen Fahrradkurier an? Und warum?«
»Das ist die Preisfrage.« Hünerbein tritt etwas zur Seite, damit die Leichenwagenfahrer den Toten in einen Plastiksarg umbetten können. »Vorausgesetzt, dass tatsächlich der Fahrradkurier getroffen werden sollte.«
Verstehe. Er vermutet, dass der Tote gar nicht das Ziel war.
»Nehmen wir mal an, der Schütze drückt ab. Und genau in diesem Augenblick radelt ihm der Kurier in die Schussbahn.«
Pech, denke ich. Dann ist der Falsche tot. Mords pech, im wahrsten Sinne. Jedenfalls für den Radfahrer. »Bleibt die Frage: Wen wollte der Schütze am Ende wirklich treffen?«
Erstaunlicherweise hat Hünerbein sofort eine Antwort parat. »Melanie!«, sagt er, wie aus der Pistole geschossen.
Ich fasse es nicht. »Melanie?« Wieso denn Melanie? Das kann er unmöglich im Ernst meinen.
»Sie kam aus dem Haus.« Hünerbein sieht mich eindringlich an. »Wie jeden Morgen. Hab ich recht?«
Herrgott, sie studiert. Dafür muss man auch mal aus dem Haus. »Sie wollte in die Uni.«
»Genau.« Hünerbein ist nicht mehr zu bremsen. »Der Schütze wusste das. Er hat das recherchiert. Ihre Gewohnheiten et cetera, wann kommt sie, wann geht sie. Er bringt sich hier irgendwo in Position und lauert ihr auf. Und als sich die Tür öffnet, drückt er ab. Nur dass ihm plötzlich und unerwartet dieser Kurier vor die Linse radelt.«
Na, Gott sei Dank! »Aber warum Melanie?« Die hat doch niemandem was getan. Eine völlig harmlose Studentin. Das ist absurd! Wer sollte einen Profikiller ausgerechnet auf meine Tochter ansetzen? »Und vor allem: Mit welchem Motiv?«
»Das müssen wir herausfinden«, meint Hünerbein ernst. »Und zwar so schnell wie möglich.«
Der spinnt, denke ich nervös, mein Kollege reimt sich da etwas zusammen. Kompletter Unsinn. Wer sollte meine Tochter töten wollen? Dafür gibt’s, verdammt noch mal, überhaupt keinen Grund!
Oder doch?
Kann ich es mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen? – Nee. Kann ich nicht.
Mir wird eiskalt ums Herz.
5 SO KONNTE ES NICHT WEITERGEHEN . Siegbert Meyer wusste das. Seit Monaten, ach was, seit Jahren schon. Er fühlte sich in seinem Leben wie auf einer Party, zu der er nicht eingeladen war und die er auch nicht verlassen konnte. Alles lief aus dem Ruder, und er kam nicht weg. Ein Alptraum war das, ein einziger Alptraum. Die Menschen hielten Geld für Glück und hatten jeden Anstand vergessen. Jeder versuchte nur noch, seinen eigenen Arsch zu retten. Es gab keine Moral mehr, die Sitten verfielen. Versprechen galten nichts mehr, und Gerechtigkeit war zu einem hohlen Lippenbekenntnis verkommen. Kurz und auf Deutsch gesagt: Die Kacke war mächtig am Dampfen, und das hatte nicht allein mit den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun, sondern vor allem auch mit ihm selbst.
Zu lange hatte er das nicht wahrhaben wollen. Zu lange hatte er versucht, gegen diese im Unterbewusstsein unaufhaltsam herankeimende Erkenntnis anzukämpfen. Nun ging es nicht mehr. Es hatte keinen Sinn, die Tatsachen zu leugnen. Ein Mann musste sich der Wahrheit stellen,
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