Mordspuren - Neue spektakulaere Kriminalfaelle - erzaehlt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt
eigentümlich waren die aus allen möglichen Arten von Ausweisen herausgetrennten Fotos von Jungen sowie eine rätselhafte Strichliste. Man entschloss sich zu einer Durchsuchung von Garavitos Wohnung, das heißt seines Zimmers bei der Familie, mit der Garavito zusammenlebte, wenn er »nach Hause« kam, und der er ein liebevoller Vater war. Dort fanden sich weitere Notizen, in kleinen Buchstaben und Symbolen auf Kalenderblätter geschrieben, die aber nach wie vor unverständlich waren. Wie sich später zeigte, waren das die akribisch geführten Sachinformationen zu allen Tötungen. Warum Garavito diese Listen führte, ist unklar, weil er sich bis heute an alle Orte und Taten erinnern kann. Vielleicht sollten die Aufzeichnungen Trophäen ersetzen, da Garavito, abgesehen von den Ausweisfotos, keine Erinnerungsstücke von seinen Tötungen besaß.
Abb. 39: Garavito konnte aus dem Gedächtnis die Lageorte aller Leichen angeben und in selbst gezeichnete Karten – jede von ihm nummeriert und zweifach signiert, sowie mit Namen, Alter und Herkunft der Kinder versehen – einzeichnen. Hier die Karte einer der Tötungsregionen. (Zeichnung: CTI Armenia [Tatortgruppe]/M. Benecke)
Wegen der Fundstücke aus dem Koffer richtete sich nun, nach jahrelangem Rätseln, der Verdacht der vierköpfigen Ermittlergruppe aus Armenia endlich gegen den enttarnten »Bürgermeister« als Serientäter. Es bedurfte aber erst noch eines Treffens des Teams aus Armenia (aus dieser Gegend stammte Garavito, von dort kamen auch der allgemeine Pädophilie-Verdacht und der Kofferfund) mit dem aus Villavicencio (dort saß Garavito im Gefängnis), bis wirklich allen Beteiligten klar wurde, dass sie damit einen der größten Fälle von Serienmord überhaupt gelöst hatten – und der Täter längst eingesperrt war.
Seine Identität wurde vorsichtshalber erst bei einem weiteren Treffen aller mit den Todesfällen beschäftigten Dienststellen im Juli 1999 intern bekannt gegeben. Der Öffentlichkeit blieb diese Information aber noch vorenthalten, um eine ungestörte Aufklärung aller Taten im Hintergrund durchführen zu können. Außerdem sollte verhindert werden, dass Garavito von seinen Mithäftlingen eventuell getötet wurde, bevor seine Blutgruppe, sein genauer Zahnstatus (er hatte viele der Opfer gebissen) und vor allem seine Lebensgeschichte zusammengetragen waren.
Erst drei Monate nach diesem letzten Treffen, am 28./29. Oktober 1999, sagte man Garavito, dass sein echter Name bekannt und mehrere der Leichen gefunden worden waren. Damit war aus dem Kinderschänder, der ein einzelnes Kind belästigt hatte und unter falschem Namen einsaß, mit einem Schlag ein überlebensgroßes Monster geworden.
Garavito reagierte blitzschnell. Vor laufender Polizeikamera bat er Gott und die Menschen um Verzeihung und gab die Taten zu. Es dauerte aber Wochen, bis das Ausmaß seiner Todesserie klar war. Seit 1992 hatte er mit Sicherheit über zweihundert, eher aber über dreihundert Jungen umgebracht und an weiteren Hunderten sexuelle Handlungen vorgenommen. Die Zeitschrift
Semana
taufte ihn »la bestia«, die Bestie. Diese Bezeichnung ist übrigens eine weitere Parallele zu Jürgen Bartsch,der diesen Begriff gelegentlich in Briefen und halb scherzhaft auf sich selbst anwendete.
Abb. 40: Als Garavitos echter Name und sein Geständnis öffentlich bekannt wurden, taufte ihn die kolumbianische Zeitschrift
Semana
»la bestia«, die Bestie. (Foto: CTI Armenia [Polizei]/M. Benecke)
Abb. 41: Luis Alfredo Garavito Cubillos saß bereits unter falschem Namen im Gefängnis ein, als er 1999 identifiziert wurde. Hier einer der ersten Artikel vom 3. Dezember 1996, in dem nach dem noch unbekannten Mann gesucht wird, der einen (!) Jungen getötet haben soll. (Foto: M. Benecke)
Garavito hofft auf Freilassung
Rechtlich gesehen ist Garavitos Fall in einer Sackgasse. Bis etwa 2003 wurden gemäß der Karte Garavitos immer mehr Leichen gefunden. Keiner der Fälle kam aber je so vor Gericht, wie wir es bei Morden kennen. Stattdessen wurden die Taten, um öffentlichen Aufruhr zu vermeiden, in einem sogenannten Strafbefehlsverfahren abgewickelt (
sentencia anticipada
, Artikel 40 des kolumbianischen Strafgesetzbuches). Dabei willigt der Angeklagte in eine zuvor festgelegte Strafe ein, die der Richter dann ohne Verhandlung, aber rechtsverbindlich festlegt. Voraussetzung sind ein Geständnis des Täters sowie der sichere Beweis, dass die Taten nicht von einer anderen Person begangen worden
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