Mordsschnellweg: Kriminalstorys
warteten ab, was geschah.
Es geschah nichts. Drahles weit aufgerissene Augen glotzten in den Wipfel des üppigen Pflaumenbaums, aus seinem Mund sickerte ein feines Rinnsal aus Speichel und Pils.
»Phil, komm doch mal ran!«, rief Erwin Farle beunruhigt. »Du hast doch ’nen Sani-Kurs auf der Hütte gemacht.«
Der dicke Kroll zwängte sich an den Trümmerfrauen vorbei.
»Was is mit ihm?«, drängte Farle.
»Vielleicht muss er liegen«, meinte Else Lewandowski. »Als meine Schwester Elsbeth aus Datteln den Schwächeanfall …«
»Lass dat jetzt mit die Elsbeth!«, zischte ihr Mann. »Phil weiß schon, watt zu tun is.«
Der krempelte dem leblosen Drahle den Hemdsärmel hoch und suchte nach dem Puls. Dann horchte er an seiner Brust und fummelte an der Halsschlagader herum. Die Schrebergarten-Meute stand dabei, langsam wurde es stiller.
»Omi, schläft der Onkel?«, fragte Schnells Enkel.
Der dicke Kroll holte tief Luft. »Ich glaube«, krächzte er, »der ist tot!«
3
Bis zur Eingemeindung im Jahr 1928 war Hörde eine selbstständige Stadt gewesen, die mit den reichen Dortmunder Nachbarn oftmals in Fehde gelegen hatte. Von der 1895 geschleiften Wasserburg der Herren von Hörde aus hatten die Grafen von der Mark verbissen gegen die Bürger der Hansestadt gekämpft. Aber Dortmund war uneinnehmbar gewesen und hatte schließlich das widerborstige Städtchen im Süden geschluckt. Den Alten, die in den Zwanzigerjahren unter der Führung des ›roten Hansmann‹, des Hörder Landrats, den Kampf verloren und die Eingemeindung miterlebt hatten, war nur noch der starrsinnige Satz geblieben: »Ich bin kein Dortmunder, ich bin Hörder!«
Drahle dagegen war Dortmunder, ein mittelhohes Tier bei der Stadtverwaltung. Er hinterließ weder Frau noch Kinder, dafür eine Siebzig-Quadratmeter-Wohnung auf dem Clarenberg und eine gepflegte Gartenanlage von fast zweihundertvierzig Quadratmetern mit einer gemauerten Laube und ertragreichen Gemüsebeeten.
Bereits seit einer guten Viertelstunde hing sein Körper auf dem Stuhl. Keiner traute sich, ihm die Augen zuzudrücken. Es war, als wartete Drahle noch ab, was die anderen jetzt mit ihm anstellen würden.
Lewandowski hatte sein Handy gezückt und Doktor Beck, den Arzt vom Neumarkt, und die Polizei alarmiert. Die Überlebenden hatten sich an zwei Gartentische zurückgezogen und nippten an ihren Gläsern. Die meisten waren kreidebleich und stumm.
Mutter Lewandowski seufzte schließlich und meinte: »Ich habe ihn bestimmt nicht besonders gemocht, aber jetzt, wo er tot ist, tut er mir doch leid.«
Fast einmütig nickte die Runde.
»Er soll ohnehin sehr krank gewesen sein«, erzählte Hannelore Krämer laut. »Ich habe ihn öfters bei Doktor Beck gesehen. Er war ständig in Behandlung.«
»Kreislauf!«, meinte Lehrer Mürrmann. »Er musste immer diese Tropfen nehmen.«
Wieder nickten alle.
»Was mach ich jetzt mit die ganzen Würstchen?«, rief Friedchen Schnell vom Grill her, legte sich dann aber erschrocken die Hand vor den Mund – Tote soll man ruhen lassen.
»Ich ess noch eins!«, meinte Erwin Farle und stand schwankend auf. »Es wäre bestimmt nicht in seinem Sinne gewesen, wenn die jetzt verkohlen würden.«
»Da hast du recht, Erwin!«, nickte der dicke Kroll.
Vor dem Grill formierte sich eine Schlange.
4
Beim Essen legte sich die anfängliche Betroffenheit wieder. Als wären sie schon beim Fellversaufen, schwatzten die Hörder Schreber über die Sterbefälle der letzten Jahre, analysierten ihre eigenen Gebrechen und verglichen dann die Hausärzte und Krankenhäuser der Umgebung. Hin und wieder warfen sie einen verstohlenen Blick auf den Alleingelassenen, als warteten sie darauf, dass er endlich nach Hause ging.
Minuten später hustete sich ein schlankes Kerlchen in Uniform den Weg durch die Johannisbeersträucher frei. Als er die Trauergemeinde erreichte, legte er kurz die Hand an die Mütze: »Bin ich hier bei Lewandowski?«
»Jau!«, sagte Hannelore Krämer und betrachtete interessiert den Schnauzbart des Polizisten: Auch mit diesen Fransen sah er noch nicht erwachsen aus.
Der Schnauzbart machte kehrt und bellte durch die Sträucher: »Christoph! Hier ist es!«
Dann platzierte er die Schirmmütze, die ihm die Sträucher beinahe vom Kopf gefegt hatten, wieder richtig auf seinem hohen Schädel. Als er damit fertig war, traf auch der Bulle namens Christoph ein: Mitte vierzig, etwas kräftiger als sein Kumpel, offenbar der Boss. Mit müdem Blick
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