Mordsschnellweg: Kriminalstorys
dem Tode meiner Eltern hat sie das Sorgerecht für mich übertragen bekommen. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall am Kamener Kreuz ums Leben. Ich war damals gerade zwölf Jahre alt.
Meine Mutter war die jüngere Schwester von Tante Hedwig und Tante Dorothea. Ich erinnere mich an eine elegante Dame, die gut duftete, mir abends einen Gutenachtkuss gab und mit sanften Händen über mein Haar strich.
Mein Vater war Jurist bei der Ruhr-Knappschaft. Ein fröhlicher Mann, der gern lachte und wilde Kissenschlachten mit mir veranstaltete. Sie hinterließen mir das schöne, große Haus am Löwenzahnweg in Bochum-Stiepel.
Tante Hedwig war begeistert, als sie nach der Beerdigung dort einziehen konnte, und belegte gleich das ganze Erdgeschoss für sich und ihre Fernseher. Dafür nahm sie es gern in Kauf, ihre pädagogischen Fähigkeiten an mir zu probieren. Zuvor hatte ihre Fürsorge einem kleinen Terrier gehört.
Wussten Sie, dass Tiere Selbstmord begehen können?
Ich sah, wie der Terrier ins Wasser ging. Und er konnte gut schwimmen. Er wollte nicht mehr!
Den Rohrstock, den sie zur Züchtigung des Hundes eingesetzt hatte, bekam ab sofort ich zu spüren.
Tante Hedwig ist nicht nur jähzornig, sondern auch geizig. Ich besaß eine gefütterte Stoffhose für den Winter und eine kurze für den Sommer. Noch mit vierzehn musste ich die kurze Hose in der Schule tragen. Können Sie sich vor-stellen, wie ich gelitten habe? Dabei hat sie treuhänderisch das Vermögen meiner Eltern verwaltet. Ich hätte jeden Tag eine andere Hose tragen können.
Onkel Robert, ihr Mann, hat ein Gemüt wie ein Schlachterhund. Oder wie würden Sie jemanden bezeichnen, der in den unschuldigen Seelen von Minderjährigen herumstochert und sich an ihren Qualen weidet?
In meinem Herzen eingemeißelt ist ein Vorfall aus meiner Pubertät. Ich entdeckte meinen Körper und meine Sexualität und Onkel Robert einen Playboy in meiner Schultasche. Das war sein Gesprächsthema für die nächsten zwei Jahre. Bald wussten es alle: die Verwandtschaft, die Lehrer, die Nachbarn – und die Eltern meiner ersten Freundin. Die untersagten ihrer Tochter daraufhin den Kontakt zu dem »sexuell wohl etwas ausschweifenden« Jungen.
Und Onkel Robert gibt zu Weihnachten stets die neueste Sammlung seiner Herrenwitze zum Besten …
Im ersten Stock hat sich Tante Dorothea eingezeckt. Daher musste ich damals in die ehemalige Mädchenkammer auf dem Dachboden ziehen. Das hat allerdings den Vorteil, dass ich hier oben alleine bleibe, weil die Bodentreppe für meine senilen Peiniger zu steil ist.
Tante Dorothea ist eine klapperdürre Vogelscheuche mit gierigen Habichtaugen und Krallenfingern, die sie mit protzigen Ringen schmückt. Sie ist Anfang sechzig und vital wie eine Vierzigjährige. Nach dem, was sie allerdings erzählt – und ich höre sie seit achtzehn Jahren reden −, müsste sie bereits seit ebenso vielen Jahren unter der Erde liegen. Seit den ersten gemeinsamen Weihnachtsfesten kenne ich alle ihre Krankheiten. Ich weiß über ihre Darmträgheit Bescheid, über ihre Herzrhythmusstörungen, über ihre Kreislaufbeschwerden, über Wasser in den Beinen und Blut im Urin. Sie traktiert mich mit medizinischen Begriffen und Erklärungen der neuesten Krankheiten. Sie könnte bei jeder Operation dem Chefarzt assistieren. Dabei war sie noch nie in einem Krankenhaus. Ihr Hausarzt hat mich, ihren besorgten Neffen, beruhigt, Tante Dorothea ist fit wie der berühmte Turnschuh. Wenn sie nicht vorher anderweitig umkäme, würde sie mit ihrer Konstitution hundert Jahre alt. Hundert Jahre!
Die letzten beiden in unserer Runde unter dem Christbaum sind Karl-Heinz und Bärbel. Karl-Heinz ist Dorotheas Sohn. Glücklicherweise ist im Haus kein Platz mehr gewesen, sonst wären Karl-Heinz und Bärbel nach ihrer Heirat garantiert auch noch eingezogen, in mein Haus.
Karl-Heinz ist nie darüber hinweggekommen, dass ich in der Schule der Bessere war und die hübscheren Freundinnen hatte. Seine geistige Unterlegenheit versuchte er durch Kraftsport wettzumachen. Drei Jahre lang spielte ich bei seinem Training den Punchingball. Eine Narb e über dem rech ten Auge erinnert noch heute an sein sadistisches Vergnügen.
Wenn er sich am Heiligen Abend nicht damit brüstet, wie er mich damals verprügelt hat, dann berichtet er von seinem Opel Astra. Können Sie sich vorstellen, dass jemand stundenlang von einem Opel schwärmt – über Hubraum, PS und Benzinverbrauch? Er hat sogar
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