Mordsschock (German Edition)
während ich das Bild betrachtete. Was für ein Kontrast zu dem aufgesetzten Getue der Ziegler! Frau Kerstein verkörperte die Güte in Person ohne kitschiges Drehbuch. Sie strich mit den Fingerspitzen zart über das Glas. „Mein Sensibelchen. Ein falsches Wort genügte, und er schmollte stundenlang. Er verkroch sich mit seinem Lieblingskuscheltier, einem Hasen, in die Ecke und gab keinen Mucks mehr von sich. Nur meine Apfelkringel lockten ihn hervor.“
Das verstand ich angesichts des hervorragenden Napfkuchens gut.
„Drei Eier mehr! Das ganze Geheimnis für einen lockeren Teig.“ Frau Kerstein schnitt ein neues Stück für mich ab.
Ich inhalierte gierig den Kardamom- und Zimtgeruch. „War Sebastian auch später als junger Mann so schwierig?“
„Als schwierig kann man ihn nicht charakterisieren. Eher als sensibel. Feingeistig. Er spielte wunderbar Klavier, las gerne Gedichte und schrieb auch selber welche. Er studierte Germanistik. Zum Ärger seines Vaters, der wollte einen Mediziner aus ihm machen.“ Frau Kerstein seufzte wieder.
„Vater und Sohn vertrugen sich nicht?“
„Die Mutter starb, als Sebastian vier Jahre alt war. Der Vater konnte mit seinem Sohn nicht viel anfangen. Er ist ein vielbeschäftigter Arzt, der Sebastians Neigungen nicht verstand. Sein Tod erschütterte ihn natürlich, aber ich glaube, er sah darin nur einen weiteren Schritt im für ihn rätselhaften Wesen seines Sohnes. Ich fürchte, er nahm es ihm sogar übel, auf diese schreckliche Weise ins Gerede gebracht worden zu sein. Als habe sich Sebastian dadurch an ihm rächen wollen.“
„Und könnte das so sein?“
„Nein! In seiner letzten Zeit war er heiterer denn je. Manchmal richtig glücklich. Er besuchte mich oft und brachte mir Blumen mit. ‚Netti‘, sagte er, alle meine Kinder nennen mich Netti, ‚ich habe zu mir selbst gefunden.‘ Sein Studium und die Arbeit in der Partei erfüllten ihn und gaben ihm die Kraft, einen eigenen Weg weg vom Vater zu gehen.“
Frau Kerstein schenkte uns eine neue Tasse Blümchenkaffee ein. Sie zupfte roséfarbene Nelken in einer Vase auf dem Tisch zurecht, deren würziger Geruch ihren Teil zu dem herrlichen Duftaroma im Häuschen beitrug. „Nein“, wiederholte sie entschieden, „er hat sich nicht umgebracht!“
Abends lief ich nach unten in die Technik, um die Ziegler-Originalfotos einzusammeln. Nicht auszudenken, wenn die verschwinden würden! Es war schummerig und kein Mensch mehr zu sehen. Willy und seine Kollegen genossen ihren wohlverdienten Feierabend. Ich fand die Fotos, deren Wert sich mit vier Kleinwagen beziffern ließ, und packte sie in einen Umschlag.
Als ich wieder nach oben wollte, hörte ich schwache Klopfgeräusche. Überrascht lauschte ich.
Poch, poch ... Es kam aus Richtung Fotolabor.
Eine leise Stimme rief zaghaft: „Hallo, hallo.“
„Ist da wer?“, fragte ich ängstlich.
„Ich bin eingesperrt“, antwortete jemand kläglich.
„Wer?“
„Ich bin‘s, Volker!“
„Warum lassen sich Praktikanten in ein Fotolabor einsperren?“
Jetzt schöpfte Voller Mut, weil er meine Stimme erkannt hatte. „Stell nicht solche Fragen! Hol‘ mich lieber raus! Es ist total finster und ungemütlich!“
Ich versuchte es auf die gewaltsame Tour und rüttelte wie eine Wilde an der Tür, die keinen Zentimeter nachgab.
„So geht es nicht! Du musst den Schlüssel besorgen“, kommandierte Voller.
„Nun werde nicht frech!“, motzte ich zurück, merkte aber, dass ich auf diese Weise nichts ausrichten konnte. Die Tür war vom alten Schlag, fest und solide, wie es sich für eine anständige Fotolabortür gehört, saß sie in ihren Angeln. „Ich organisiere was.“
„Mach schnell! Ich halte es nicht mehr lange aus! Es stinkt ekelhaft nach altem Entwickler. Ich leide an klaustrophobischen Zuständen.“
„Soll ich dir was zum Lesen durch die Tür schieben?“
„Witzig! Erstens gibt es nicht mal einen Spalt, zweitens herrscht hier stockdustere Nacht.“
Ich rief Barbara an. Es meldete sich nur eine Anrufbeantworterstimme.
Als Nächstes wählte ich Herbie an. Seine Frau teilte mir säuerlich mit, ihr Mann sei nicht im Hause. Möglicherweise Schikane von ihr.
Gundula anrufen? Kam nicht infrage, außerdem hatte die sicherlich auch keinen Schlüssel und würde die Situation wieder für wer weiß was ausnutzen. Blieb nur mein geliebter Chef übrig. Nervös wählte ich die Nummer. Zumindest meldete er sich selbst am anderen Ende.
„Das darf nicht wahr sein! Muss
Weitere Kostenlose Bücher