Mordsschock (German Edition)
anderen Bild war sie älter, etwa fünfzehn. Sie saß lächelnd im Sommerkleid am Rande eines Brunnens, die mediterrane Umgebung ließ mich auf Rom tippen, und leckte ein Eis.
Das dritte Foto schien aktuell zu sein. Das Mädchen, inzwischen herangewachsen zu einer jungen Frau, trug einen Laptop auf ihrem Schoß und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Ich vermisste die unbeschwerte Fröhlichkeit der anderen Fotos. Als ob der Ernst des Lebens als Beigabe des Erwachsenwerdens über sie hereingebrochen war und sich auf ihrer gekrausten Stirn widerspiegelte.
„Christine war wohl sehr fit am PC?“
„Ja, seit sie mit zehn ihren ersten eigenen Rechner bekam, beschäftigte sie sich mit Programmiersprachen und allem, was damit zusammenhing. Wissen Sie, ich verstehe nicht viel davon. Sie hat es mir versucht zu erklären, aber ...“, Frau Riecken stieß ein nervöses Lachen aus, „ich bin froh, wenn ich einen Brief in Word schreiben kann.“ Sie spielte die Weibchenrolle, die Technik lieber Männern überließ. Ein karierter Wickelrock bedeckte locker die zierlich übereinander geschlagenen, schlanken Beine. Sie lehnte in ihrem Sessel und fingerte an der einreihigen Perlenkette herum, die perfekt mit dem eleganten Twinset harmonierte.
Christine Rieckens Mutter war eine attraktive Frau. Die gleichen schwarzen Locken und großen dunklen Augen in einem zarten, puppenhaften, dezent geschminktem Gesicht wie bei Christine. Nur die leichten Fältchen um die Mundwinkel verrieten, dass die Blüte ihrer Jugend verwelkte. Und in den Augen fehlte der Ausdruck des verwundeten Rehs wie bei Christine. Eine nach teurem Parfüm duftende Frau mit feingliedrigen Fingern, die ungeeignet waren, um Möbel zu schleppen oder einen Reifen zu wechseln.
„Wissen Sie, mein Mann ist Kaufmann, Import/Export, der kennt sich natürlich auch mit Computern aus, ich dagegen ...“ Wieder kicherte sie hilflos und zupfte sich eine Locke in die Stirn, die sich dort verführerisch ringelte.
In der kurzen Zeit, in der ich hier saß, hatte sie fünf Mal ihren Mann erwähnt. Sie war nicht in der Lage, ihre Sätze vernünftig zu beenden.
Hatte Christine Riecken gegen diese zarte Mutter rebelliert? Ich malte mir aus, wie sich das Mädchen bewusst für ein Informatikstudium entschied und angestrengt arbeitete, um bloß nicht diesem Weibchen, das ihr äußerlich so ähnlich sah, zu gleichen. Auch der Schritt in die Politik war eine logische Abwendung von der angepassten Mutter.
„Wohnte Christine zu Hause?“
„Ja, als Studentin musste sie sparen, und mein Mann sagt ...“, das Geräusch einer klappenden Tür jagte ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht, „ah, da kommt er ja! Ich habe ihm von Ihrem Besuch erzählt. Er wird gleich ...“
Wenig später führte Ingo Riecken das Wort. Zwar nicht der vierschrötige Mann, den ich mir angesichts dieser zarten Frau als Kontrastpol ausgemalt hatte, sondern eher untersetzt und dünn, aber er übernahm das Kommando. „Meine Tochter hat Sie nie erwähnt.“
Ich schickte ihm ein warmes Lächeln, um eine Schicht Misstrauen abzubauen. „Wir haben uns kurz vor ihrem Tod erst kennengelernt. Als Journalistin beeindruckte mich besonders ihr politisches Engagement. Sie wirkte so dynamisch. Ich kann es nicht glauben, dass sie freiwillig Schluss gemacht hat.“
Frau Riecken betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch und gab einen erstickten Schluchzer von sich.
„Sie wollte mir eine wichtige Nachricht per Mail senden. Leider ist sie nie angekommen. Ich habe gehofft, Sie könnten einmal für mich auf Christines Rechner nachsehen? Verstehen Sie, es war ihr Wille, und ich möchte alles tun, um ihrem Wunsch nachzukommen.“
Herr Riecken schüttelte bekümmert den Kopf. „Leider können wir Ihnen nicht helfen. Die Polizei hat alles durchsucht und überprüft. Auch den Rechner. Die Festplatte ist gelöscht.“
„Was? Warum sollte Ihre Tochter ihre Festplatte löschen?“
„Was meinen Sie, wie mich dieser Gedanke Tag und Nacht verfolgt?“
„Was sagt Kommissar Herder dazu? Das müsste ihn stutzig gemacht haben.“
„Im Gegenteil. Menschen, die ihren Tod planen, würden oft Aufzeichnungen, Dokumente oder Dateien vernichten. Aus Furcht, Dritte könnten ihre geheimen Gedanken später lesen.“ Ein lauter Seufzer entfuhr Herrn Riecken, und seine Frau zog ein neues Taschentuch hervor. „Andernfalls käme bei Usern wie Christine, die viel ausprobieren und sich ständig neue Programme aus dem Internet
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