Mordsschock (German Edition)
herunterladen, häufig ein Virus vor, der zum Löschen der Festplatte geführt haben könnte. Tatsächlich ist ihr das früher auch passiert. Aber sie war dann so wütend, dass sie es uns erzählt hat. Außerdem installierte sie vor einiger Zeit, soweit ich weiß, einen neuen, sehr sicheren Virenscanner.“
„Gibt es Sticks, CDs, Disketten oder irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen über politische Aktivitäten, die Ihnen merkwürdig erscheinen?“
„Nichts! Nur die üblichen Sitzungsunterlagen, die alle Ausschussmitglieder erhalten. Ansonsten haben wir bloß Unterlagen mit Hausarbeiten für die Uni gefunden. Sie hat auch kein Tagebuch oder Ähnliches geführt.“
„Sie glauben nicht an die Freitodtheorie der Polizei?“
„Für alle Eltern ist der Gedanke grausam, ihr Kind könnte eher in den Tod springen, als sich den Problemen, die es offensichtlich bedrücken, zu stellen. Diese Schuldgefühle schnüren einem die Luft zum Atmen ab.“
„Christine hat sich nicht umgebracht. Das würde sie nie tun. Sie ...“ Der Rest von Frau Rieckens Aufschrei landete in ihrem nassen Taschentuch, das sie sich krampfhaft auf den Mund presste. Die Hälfte ihrer Locken hing ihr mittlerweile wie ein Vorhang im Gesicht. Angespannt wühlte sie mit der freien Hand darin herum, um sie hinters Ohr zu stecken, wo sie sich im nächsten Moment wieder lösten und nach vorne schwangen.
„Es ist fürchterlich, mit dem Vorwurf zu leben, das eigene Kind sah keinen anderen Ausweg und teilte sich uns nicht mit.“ Herr Riecken sprach so leise, als bereite ihm jedes Wort Qualen.
Ganz im Gegensatz zu ihrem damenhaften Outfit schnäuzte sich seine Frau geräuschvoll wie ein Bauarbeiter in der Mittagspause.
Dieses ungewohnte Geräusch weckte eine rebellische Ader in dem Mann. Ich entdeckte den gleichen energischen Gesichtsausdruck wie bei Christine. „Trotzdem glauben wir, dass Christine niemals so aus dem Leben geschieden wäre. Auch wenn es nach Meinung der Polizei keine Anhaltspunkte für für ...“, seine Stimme zitterte, „Mord gibt.“
„Warum sind Sie so sicher?“
Aufgeregt zupfte Frau Riecken ihren Mann am Ärmel. „Erzähl das von dem Brief, der ...“
„Ja, ja, ist gut!“ Beschwichtigend tätschelte er sie. „Christine hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Ich habe einen unabhängigen psychologischen Gutachter eingeschaltet. Machen wir uns nichts vor – die Polizei hat ihre Ermittlungen längst eingestellt und geht von Selbstmord aus. Ist ja auch schön bequem für die. Aber wir werden nicht aufgeben, bis wir die Wahrheit wissen. Dieser Gutachter bestätigte, dass Christines Tod für Selbstmörder untypisch sei. Zum einen der fehlende Abschiedsbrief und ...“
Enthusiastisch mischte sich Frau Riecken ins Gespräch ein. „Christine hat viel geschrieben und gelesen. Sie war eine richtige Leseratte. Anspruchsvolle Literatur. Thomas Mann beispielsweise ...“
Unwillkürlich zappelten die dunkelhaarigen, musisch begabten Außenseiterfiguren aus seinen Novellen vor meinem inneren Auge. Neidvoll beobachteten sie blondhaarige, blauäugige ‚Normalos‘ wie Tierchen unter der Sezierlupe und fanden schließlich ein tragisches Ende. Mein Deutschlehrer hatte mich in der Oberstufe bis zum Abwinken mit Thomas Manns frühen Erzählungen gequält. Insofern passte das Bild der depressiven Selbstmörderin zu Christine. Frau Riecken las offensichtlich nicht so viel wie ihre Tochter.
„Ja, sie hat also keinen Brief hinterlassen“, wiederholte Herr Riecken heiser, als wollte er mich aus meinen trüben Gedanken wachrütteln. „Und sie lag relativ dicht am Mauerwerk. Der Gutachter sagt, Selbstmörder würden mit viel größerem Abstand aufschlagen. Bei Christine sähe es so aus, als habe sie jemand gedrängt zu springen, und sie habe versucht, sich irgendwo anzuklammern. Deswegen die Nähe zum Mauerwerk.“
„Fremde Fingerabdrücke auf ihrem Körper?“
„Nein, die Polizei fand keinerlei Spuren. Auch nichts, was auf einen Kampf hindeutete. Zumindest gestand Kommissar Herder, dass Christine eine ungewöhnliche Form gewählt hat. Der Sprung vom Balkon sei eher selten. Typischer ist Erhängen oder Vergiften mit Tabletten.“
„Niemals ist unsere Tochter freiwillig gesprungen. Jemand hat sie getrieben ...“ Frau Riecken trank einen Schluck von dem inzwischen eiskalten Tee.
„Ist Ihnen in letzter Zeit etwas an Christine aufgefallen? War sie verändert oder depressiv?“
„Sie war in sich gekehrter, schweigsamer als
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