Morenga
Gottschalk muß sich einige Zeilen aus einem Gedichtband von Hölderlin gemerkt haben:
So komm! daß wir das Offene schauen, Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist. Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe Bis in die Mitternacht, immer besteht ein Maß, Allen gemein, doch jeglichem auch ist eigenes beschieden, Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann.
Einmal, als Zeisse neben Gottschalk ritt, fragte er ihn, was Zeisse täte, würde er bei einem Überfall verletzt. Würde er sich den Aufständischen ergeben? Zeisse dachte ziemlich lange nach und sagte dann: Nee.
Und als abends Gottschalk dem Leutnant Elschner die gleiche Frage stellte, verpackt in zahlreichen Irrealis und Konditionalsätzen, da kramte Elschner statt einer Antwort in seiner Brusttasche und zog eine kleine Kapsel heraus, die er Gottschalk auf der Handfläche hinhielt. Zyankali. Für den Fall, daß auch die letzte Patrone verschossen ist. Man zählt im Gefecht ja nicht immer mit. Allerdings hätte Elschner sich gern einmal mit Morenga über die strategischen Ziele der Rebellen unterhalten. Wenn Morenga im Augenblick auch im Vorteil war, auf die Dauer mußte er doch unterliegen. Wußte er das?
Tagebucheintragung Gottschalks vom 25. 9. 05
Wie kommt es zur Tötung? Wie können Menschen andere erschießen oder erhängen? Und wie können andere zusehen wie auf einem Jahrmarkt? Was erzeugt diese Teilnahmslosigkeit und darunter diesen fürchterlichen Haß? Vielleicht ist etwas in ihnen, was ihnen selbst hassenswert ist, ein Teil ungelebten Lebens. Was tötet das ab, das Mitfühlen?
Abends saß Gottschalk unter einer aufgespannten Zeltplane, auf die der Regen prasselte. Er blätterte im Kropotkin. Das Buch war, obwohl er es pfleglich behandelt hatte, inzwischen arg zerfleddert. Seine durchnäßten Uniformteile rochen nach Kamel. Dieser Geruch war auch auf seinem Körper, und zuweilen glaubte er, er könne ihn mit keiner Seife der Welt wieder abwaschen. Aber es war auch ein vertrauter Geruch, so wie er als Junge den Geruch der Ziegen gemocht hatte.
»Kurz, weder die zermalmende Macht des zentralisierten Staates noch die Lehren von gegenseitigem Haß und erbarmungslosem Kampf, die mit dem Abzeichen der Wissenschaft angetan von dienstfertigen Philosophen und Soziologen kamen, konnten das Gefühl für die Solidarität der Menschen ausrotten, das im Geist und im Herzen der Menschen tiefe Wurzeln geschlagen hat, weil es von unserer ganzen bisherigen Entwicklung großgezogen worden ist.«
Tagebucheintragung Gottschalks vom 26. 9. 05 (nachts)
Wir scheinen doch ohne Verlust Ukamas zu erreichen. Elschner sagt, es seien nur noch drei bis vier Tage Marsch. Wie groß muß das Unrecht sein – und die Ahnung davon –, das man diesen Menschen angetan hat, daß man sich lieber vergiftet oder erschießt, als sich ihnen zu ergeben.
Vielleicht wird es einmal selbstverständlich, jeder Kreatur zu helfen und ebenso den Bäumen, Büschen und Blumen, ja sogar der Erde, der Landschaft. Der Garten Eden. Der Boden, auf dem ich liege, schwitzt, die Landschaft atmet, warm und feucht. Viele Reiter haben abends nackt im Regen gestanden. Einer, der in Keetmannshoop die gefangenen Rebellen gehängt hat, alberte herum, bewarf andere mit Schlamm.
Am 27. September näherte sich der Wagentransport der Missionsstation Heirachabis. Meisel wollte vorausreiten. Elschner warnte ihn, aber Meisel entgegnete, er habe die Aufständischen nicht zu fürchten. Es regnete ununterbrochen. Die Sicht war schlecht. Das Gelände wurde etwas schroffer und durch den Buschbestand unübersichtlicher. Elschner ließ die Spitze verstärken. Gegen Abend befahl er, am Hang eines Hügels zu halten. Der Hügel lag wie eine Bastion im Gelände und bot nach allen Seiten ein gutes Schußfeld. Ein Unteroffizier bezog mit sechs Mann auf der Kuppe Stellung. Die Ochsenwagen wurden zu einem Ring zusammengefahren. Die Wachen verstärkt. Auch Gottschalk wurde eingeteilt. Er nahm sich vor, auch im Schreck nicht gezielt zu schießen.
Später, unter der tropfenden Zeltplane, aß er etwas Dörrfleisch.
Tagebucheintragung Gottschalks vom 27. 9. 05
Die Toten bei den Hottentotten sind viel lebendiger als unsere Toten. Das liegt vielleicht daran, daß die Lebenden mehr Zeit haben, sich ihrer zu erinnern. Möglicherweise stirbt es sich auch leichter, wenn man sich bei den anderen aufgehoben weiß, eine Zeitlang.
Nach diesen Güssen ringsum ein Quellen und Grünen. Der Tod: Eine Logik außer uns.
Das
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